Süße Rache – eine Lust, die Leere zeugt

Sich hineintunneln in archaisches Denken: Rach-, Straf- und Vergeltungssucht als Endlos-Denkspirale. Im Strafvollzug, bei der Globalisierung und in zwei Theaterinszenierungen des Thalia  ■ Von Petra Schellen

Sie entsteht aus dem Gefühl verletzter Würde. Aus der Erfahrung, hinterrücks überrascht und gedemütigt worden zu sein. Und sie kann sich zum Monstrum entwickeln, zur Medusa, deren Häupter schnell nicht mehr zählbar sind: Die Lust auf Rache, ausgelöst durch akut erzeugte Ohnmachtsgefühle, die umso stärker sind, je mächtiger und unsichtbarer der Täter ist.

Doch den Lustfaktor zuzugeben getraut sich fast niemand. Von Befriedigung des Gerechtigkeitsgefühls ist stattdessen die Rede: eine nicht ganz ehrliche moralische Verbrämung der Tatsache, dass der Ruf nach Rache pure emotionale Reaktion ist. Denn das Gefühl, Opfer zu sein, löst gewalttätige Revanchephantasien aus – und den Wunsch, „eine diesmal umgekehrt asymmetrische Machtsituation“ herzustellen, wie Jan Philipp Reemtsma es formuliert.

Doch was ist gewonnen mit der Schädigung des Täters, so man ihn findet? Von der eigenen Häme kann sich das Opfer nur kurz emotional ernähren. Leere bleibt, ist die Euphorie über die „gerechte Bestrafung“ verflogen – und das diffuse Gefühl, dass einem der Täter die Würde auch nicht wiedergeben kann. Doch der Blick in diese psychischen Abgründe ist mühsam – ganz abgesehen davon, dass Vergeltung einer konkret benennbaren Tat einfacher und boulevardesker realisierbar ist als die differenzierte Suche nach Gründen. „Es ist oft ein Bündel von Ursachen, das zu einer Straftat führt“, sagt etwa Martin Steller, der über 30 Jahre lang Gefängnispfarrer, unter anderem in Fuhlsbüttel , war. „Wer die Gesetze der umgebenden Gesellschaft bricht, ist jahrzehntelang fehlprogrammiert worden. Er hat diese abirrenden Verhaltensmuster erlernt und ist in keinem Fall eins zu eins identifizierbar mit seiner Tat. Er kann ehrlich und unehrlich zugleich sein, wie ein notorischer Dieb, der als mein Gefängnis-Kirchengehilfe absolut zuverlässig und ehrlich war. In solch einem Fall kann ich nur sagen: Er ist alles gleichzeitig. All diese Facetten sind Teil seiner Persönlichkeit.“

Weder Täter noch Opfer würden angemessen wahrgenommen in den Gerichtsverfahren unseres auf Vergeltung basierenden Strafsystems. „Viele Menschen finden es einfacher, einen anderen stellvertretend für das, was sie selbst sich verkniffen haben, einzusperren“, sagt Steller. Projektionen der so genannten Rechtschaffenen seien oft Teil des Rachedenkens – sowie die irrige Unterstellung, dass sich der Täter genauso frei für das „Gute“ hätte entscheiden können wie man selbst.

Rache also als bloße Projektion der eigenen düsteren Anteile? „Es sieht – bezogen auf unsere Gesellschaft – so aus. Jedenfalls wird halbherzig agiert: Der Schutz der Bevölkerung wird ja angeblich über die Behandlung der Täter gestellt. Dabei blendet die Gesellschaft völlig aus, dass die meisten Straftäter irgendwann wieder freikommen und – wenn sie inzwischen keine anderen Verhaltensmuster gelernt haben – dieselbe Bedrohung darstellen wie zuvor. Jedenfalls muss eine Resozialisierung der Täter versucht werden. Greift dies nicht, muss man sie eben doch wieder einsperren.“

Kurzsichtiges Denken attestiert Martin Steller Justiz und Gesellschaft – und ein Strafsystem, dessen Sinnlosigkeit auch jene Täter, die Reue empfinden, zu Opfern mutieren lässt: „Nach ein bis zwei Jahren focussieren sie gar nicht mehr ihre eigene Tat, sondern sehen sich nur noch als ungerecht behandeltes Opfer. Ich habe viele Gefangene sagen hören: Strafen ja, aber nicht so. Die Aufarbeitung der ursprünglichen Tat wird also behindert.“

Eine Aufarbeitung, die – falls von beiden gewünscht – durch einen Täter-Opfer-Ausgleich passieren könnte, der viel zu selten praktiziert werde. Vielleicht wäre dies auch ein Ansatz für die Linderung von Rachegefühlen, die allerdings „auch bei vielen Angehörigen von Opfern von Sexualdelikten längst nicht so stark sind wie durch Medien und rechte Wahlkampfreden transportiert: Die überwiegende Zahl stellt den Schutz vor weiteren Verbrechen über die Rache“, berichtet Steller. Eine Beobachtung, die vermuten lässt, dass Rachegefühle oft durchs Kollektiv verstärkt werden und mit Begriffen wie „Gesicht wahren“ und „Stärke zeigen“ verknüpft sind. Auch die Aufforderung, „es sich nicht gefallen zu lassen“, wird oft von außen an den Betroffenen herangetragen in Form sozialen Drucks, und mit einer großen Portion Voyeurismus seitens der Ratgeber garniert.

Denn was ist letztlich gewonnen durch die „Übelzufügung“ in Richtung des Täters? Einsicht wird er deswegen nicht zeigen, sondern neuen Hass entwickeln und eine Gewaltspirale starten, wie Elektra und Medea es tun. Sie sind zentrale Figuren eines Doppelprojekts antiker Tragödien des Thalia in der Gaußstraße, das – von dem Bulgaren Dimiter Gotscheff und dem in Magdeburg geborenen Andreas Kriegenburg initiiert – vielleicht nicht zufällig zwei Regisseure anregten, die, so Gotscheff, „in der so genannten sozialistischen Welt“ aufwuchsen.

Rachegefühle gegenüber den diktatorischen Systemen ihrer Vergangenheit treiben keinen der beiden um, doch die Beschäftigung mit dem Komplex „Gewalt“ ist geblieben: „Gewalt ist ein Thema, mit dem ich aufgewachsen bin, und es hat nie mein Bewusstsein verlassen. Denn es gab in meiner Biographie genug Momente, in denen ich vergewaltigt wurde vom System, das keinen Raum für das Bemerken der Widersprüche ließ. Und das Jugendliche missbrauchte, die der Ideologie und dem einseitigen Denken nichts entgegensetzen konnten.“

Genauso wenig wie Sophokles' Elektra, deren Rachewahn Gotscheff auf die Bühne gebracht hat. „Diese Figur ist Vertreterin einer Generation, die etwas glaubt, die Märtyrer aufbaut – wie den Vater, den Elektra rächen will –, die es nicht verdienen. Hier herrscht eine totale Verkennung der eigenen Situation und der Spirale von Bluttaten, die man in Bewegung setzt.“ Denn Elektra blendet aus, dass der von ihrer Mutter Klytaimnestra ermordete Vater seinerseits seine Tochter Iphigenie, Elektras Schwester, als „Opfer für die Götter“ tötete. Denn Elektra – laut Gotscheff „ein gesellschaftliches Phänomen, das sich als pathologischer Extremfall äußert“ – gesteht nur Männern das Recht auf Rache zu. Und wenn sich in dem Drama auch Mutter und Tochter in den Mitteln – Ermordung des für schuldig Gehaltenen – ähneln, unterscheiden sich ihre Motive doch stark: Die Würde der Frauen – ihre eigene und die der ermordeten Iphigenie – wiederherzustellen war Klytaimnestras Ziel: ein emanzipatorischer Akt, der die vorgeblichen „Gesetze der Götter“ in Frage stellt.

Elektra dagegen bleibt vatergläubig: Rache um der Rache willen ist Ziel der fanatisierten Tochter, deren gesamtes Leben – sie wartet jahrzehntelang auf den zur Rache verpflichteten und legitimierten Bruder – Zerstörung ihrer selbst und anderer ist. Von immenser Wirkung ist bei der Rach-Süchtigen die Komponente Zeit, in der sie sich in ihre Gefühle hineinsteigert, Rationalisierungen erfindet und sich auch vor sich selbst als Opfer inszeniert.

Dies ist auch das Muster, dem Euripides' Medea – Protagonistin des zweiten derzeit am Thalia in der Gaußstraße gespielten Stücks – folgt. Sie ist besessen von der Idee, ihren Geliebten Jason zu töten, der in der Fremde, wohin das Paar flüchtete, eine andere heiratet. Die neue Braut, den Brautvater und die eigenen Kinder ermordet Medea – eine „maßlose Reaktion“, die auch Regisseur Kriegenburg „ab einem bestimmten Punkt nicht weiter motivieren will. Den Tod von vier Menschen will ich irgendwann nicht mehr begreifbar machen.“ Medea, „die ihre Kinder mordet, steht auf einer weitaus archaischeren Stufe als Elektra“, betont auch Gotscheff.

Keine der Frauenfiguren in dem Doppelprojekt, das die Regisseure auch erfanden, „um mal nicht zu konkurrieren und so den gängigen Marktmechanismen etwas entgegenzusetzen“, so Kriegenburg, durchbricht ihre Denkspirale. „Und genau hier liegt auch die Analogie zur heutigen Gesellschaft: in der Selbstverständlichkeit, mit der Gewalt unser Denken besetzt hält – so stark, dass uns keine Alternativen mehr einfallen.“ Auch Medea „tunnelt sich regelrecht hinein in den Gedanken, dass sie töten und sich rächen muss“, betont Kriegenburg. „Sie sagt sich, mein Herz muss jetzt schweigen, jetzt muss die Hand agieren.“

Und vermutlich ist jeder Industrienationen-Bewohner schon recht fortgeschritten in solch forciertem „Korrektdenk“, um dessentwillen man sich eben manchmal barsch die Sanftheit verbieten muss. Ganz abgesehen davon, dass Delikte nicht erst seit gestern höchst „differenziert“ beurteilt werden: Massenentlassungen um des Aktionärsprofits willen etwa gelten nicht als Verbrechen. Und auch die Globalisierung ist letztlich „ein gewalttätiger Prozess, der ganze Kontinente verstümmelt und bewirkt, dass eine kulturelle Region aufblüht auf Kosten etlicher anderer. Da sieht man deutlich die Spirale der Entwicklung zivilisierter kapitalistischer Macht, deren Auswirkungen auf die Ränder ungeheuer sind“, betont Dimiter Gotscheff. „Es müssen neue ideologische und ökonomische Modelle geschaffen werden, basierend auf Verantwortung gegenüber den weniger entwickelten Ländern. Sonst wird der Hass nicht aufhören.“

Und sonst wird sich die Spirale weiterdrehen wie das mythologische Schicksalsrad, in der „Elektra“-Inszenierung veranschaulicht durch eine Drehtür, die Menschen in die Gewaltwelt hineinspuckt, sie aber nicht wieder zurücknimmt.

Denn zurückdrehen müssen die Menschen selbst – eine Lösung, an die Gotscheff nicht glaubt, wohl aber Martin Steller: „Jede Gewalttat hat eine Geschichte, und die muss man angstfrei aussprechen können – wobei große Unterschiede zwischen Beziehungs- und Eigentumsdelikten bestehen: Bei Beziehungsdelikten, auch gegen das Leben gerichteten, entwickelt der Täter oft ein klares Unrechtsbewusstsein. Deshalb ist er kaum gefährdet, wieder zu morden, weil die Tat aus einem konkreten Konflikt resultierte. Anders ist es bei Eigentumsdelikten: Es gibt Täter, die sagen, dem großen, reichen Konzern würde ich was stehlen, aber niemals meinen Verwandten.“

Vergeltungsstrafen nach dem in der Justiz üblichen stereotypen Schema hält Steller daher nicht für sinnvoll: „So kommt man an die Charakterstruktur des Täters nicht heran. Abgesehen davon haben freigelassene Mörder oft eine geringe Lebenserwartung. Viele begehen Selbstmord oder verwahrlosen, weil sie mit ihrer Tat nicht fertig werden.“ Vielleicht könnte also ein Strafvollzug hilfreich sein, der Gelegenheit zur echten Sühne bietet – nicht in Form einer pauschalen, institutionalisierten Vergeltung, die weder Lerneffekt für den Täter noch Linderung für das Opfer bringt. Sondern – soweit das überhaupt möglich ist – in Form finanziellen und humanitären Abarbeitens dessen, was passierte. Denn viele Gefangene – besonders bei Tötungsdelikten – hätten ein starkes Sühnebedürfnis. „Diese Täter äußern oft Berufswünsche in Richtung Kranken- und Behindertenpflege.“

Den Wunsch, etwas gutzumachen, sieht Steller in solchen Ideen – und einen Ansatz, letztlich auch die Interessen des Opfers effektiver zu wahren – etwa, indem der Täter durch angemessene Entlohnung seiner Arbeit als Gefangener tatsächlich abbezahlen könnte, was er stahl.

Ein solches Modell wäre ein tatsächliches Agieren gemäß dem alttestamentarischen Diktum „Aug um Aug, Zahn um Zahn“, das permanent missdeutet wird: „Diese Regel sollte die Verhältnismäßigkeit der Mittel regeln und überschießende Reaktionen ja gerade verhindern“, erklärt Rabbiner Kai Eckstein. „Überspitzt formuliert bedeutet der Satz: Wer dir ein Auge nimmt, dem sollst du auch nur ein Auge nehmen und nicht mehr. Das Gebot sollte also der Humanisierung des Zusammenlebens dienen und blinder Revanche einen Riegel vorschieben.“

Ein Problem, an dem die sich besonders moralisch wähnenden Industrienationen, mit Streuminen und anderen, am Boden schwer auszumachenden Explosionskörpern operierend, akut wieder einmal scheitern, indem sie afghanische Zivilisten zu Opfern machen, die ihre Wunden nicht durch künstlerische Arbeit lindern können: „Die Beschäftigung mit dem Gewalt-Thema intensiviert viel in mir“, bekennt Regisseur Gotscheff. „Meine Arbeit ist zugleich ein Versuch, nicht moralisierend aufzutreten, sondern an die Ursachen der Gewalt zu reichen.“

Fündig allerdings wurde er noch nicht. „Ich glaube, jede Kultur erzieht ihre eigenen Rachetäter. Und dann gibt es ja leider noch jene Wissenschaftler, die – etwa in der Atomphysik – auch dann leuchtenden Auges weiterforschen, wenn längst erwiesen ist, dass sie Massenvernichtungsmittel erzeugen“, erklärt Gotscheff. Spieltrieb als Movens für Gewalt? „Ich sage nur: Rache ist süß.“