Im Namen der Gerechtigkeit?

AM ENDE DES KRIEGES (3): Die Rhetorik vom „gerechten Krieg“ ist verführerisch – denn wer „das Böse“ bekämpft, muss nicht zimperlich sein. Kollateralschäden sind inbegriffen

Statt vom gerechten Krieg zu sprechen, sollten die USA ihre legitimen Interessen benennen

Zu den stehenden Redewendungen der letzten drei Monate gehört der Satz, dass nach dem 11. September nichts mehr so sei wie vorher. Man könnte diese These auch umdrehen: Nach dem 11. September ist alles wieder so, wie es schon immer war: Der Hegemon wurde brutal gereizt und schlägt mit seiner überlegenen militärisch-strategischen Gewalt zurück. Mit dem Feldzug gegen die afghanischen Taliban und die offenbar mit ihnen verbündeten Mitglieder der radikalislamischen Terrororganisation al-Qaida haben die USA allerdings einige überraschende Akzente gesetzt.

Die Schnelligkeit, mit der die Taliban hinweggefegt wurden, verblüffte wohl nicht nur die so genannten Afghanistan-Kenner, sondern bescherte den Amerikanern auch eine späte Genugtuung. Einerseits wurde den Resten des einstigen Großgegners Sowjetunion die eigene Überlegenheit noch einmal vor Augen geführt: Woran die SU nach zehn Jahren Krieg gescheitert war, erledigten die USA in zehn Wochen. Andererseits ist das Vietnamtrauma nun endgültig überwunden. Der Krieg in Vietnam galt und gilt nicht nur in der amerikanischen Selbstwahrnehmung als der schmutzige Krieg der USA, die ansonsten stets auf der Seite des Guten kämpften. Ist der Krieg der USA in Afghanistan nun wieder ein gerechter Krieg? Schon dass diese Frage möglich ist, zeugt nicht vom Eintritt in eine neue globale Ära, sondern von Reminiszenzen an vergangene Epochen.

Der Luftkrieg der Nato gegen Serbien wurde zumindest vordergründig aus moralisch-humanitären Gründen geführt. Während zur Verteidigung des Einsatzes der Bomber über Belgrad das gesamte rhetorische Arsenal menschenrechtlicher Interventionspolitik aufgeboten werden musste, genügte ein Blick auf den Krater in New York, um im Fall von Afghanistan die Legitimität von Streubomben klar zu machen. Während im Kosovo zum ersten Mal menschenrechtliche Argumente eingesetzt wurden, um das Völkerrecht außer Kraft zu setzen, gehorcht die Intervention in Afghanistan offenbar einem Grundprinzip des Völkerrechts: Ein angegriffener Staat hat das Recht, sich gegen den Angreiffer zu wehren.

Es bedurfte keiner rhetorischen Kunstgriffe, um diesen Einsatz zu rechtfertigen, keiner besonderen Moral und keiner fortgeschrittenen globalen Ethik – und dies, obwohl die stärkste Militärmacht der Welt gegen das ärmste Land dieser Erde zu Felde zog. Ein nahezu archaischer Reflex genügt, um die Legitimität dieses Feldzuges anzuerkennen. Auch ohne die offiziösen Zensuranstrengungen der amerikanischen Regierung wäre dieser Krieg, zumindest solange er so erfolgreich geführt werden kann, zu Recht kaum auf Kritik gestoßen, auch nicht in Europa.

Also ein gerechter Krieg? Womöglich ja. Aber was bedeutet das? Das Konzept des gerechten Krieges ist selbst vormoderner Natur. Die Griechen erachteten jene Kriege für gerecht, die sie um ihrer Zivilisation willen gegen die Barbaren führten, um diese in jenen Zustand zu versetzen, der ihnen von Natur aus zukam: in die Sklaverei. Dieses Konzept des gerechten Krieges nannte die Dinge wenigstens beim Namen. Für das römische Rechtsdenken dagegen war ein Krieg nur gerecht, wenn er gegen einen Gegner geführt wurde, der Schuld auf sich geladen, etwa römische Bürger oder Institutionen attackiert hatte.

Die für das Abendland entscheidende Definition des gerechten Krieges stammt von Thomas von Aquin. Nach ihm müssen drei Bedingungen erfüllt sein: die legitime Autorität, die gerechte Ursache und die gerechte Absicht. Nur der durch göttliche Autorität beglaubigte Herrscher kann gerechte Kriege führen, und er führt sie dann, wenn nicht nur eine plausible Ursache – wie der Angriff eines Feindes – vorliegt, sondern auch sein daraus abgeleitetes Kriegsziel in der Herstellung gerechter Verhältnisse liegt.

Wer immer die Absicht hat, seine Kriege gerecht erscheinen zu lassen, wird sich, wenn auch in abgewandelter Gestalt und ohne Gott, der aquinatischen Argumentationsform bedienen. Er wird erklären, dass er institutionell legitimiert ist, diesen Krieg zu führen, er wird den Feind einer schweren Untat bezichtigen, und er wird darauf hinweisen, dass es ihm dabei letztlich nicht (nur) um die Vernichtung des Gegners, sondern um die Verbesserung der Welt gehe. Die verheerenden Glaubenskriege des 17. Jahrhunderts hatten allerdings gezeigt, dass es das Schlimmste ist, wenn alle gerechte Kriege führen. Die Entwicklung des Völkerrechts im Anschluss an Theoretiker wie Hugo Grotius hatte dann auch versucht, jenseits des religiösen Konzeptes eines „gerechten“ Krieges verbindliche Kriterien einzuführen, die den Krieg wenn nicht verhindern, so doch in geregelte Bahnen führen sollten. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel in Bezug auf das angestrebte politische Kriegsziel stellte dabei einen entscheidenden Punkt dar.

Die kritische Reflexion der Moderne hat das Konzept des gerechten Krieges zugunsten machttheoretischer Überlegungen verabschiedet, die in Clausewitz’ berühmten Diktum vom Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln mündete. Die ideologischen Kriege des 20. Jahrhunderts haben auch die Idee eines völkerrechtlich verbürgten Kriegsrechts wieder demontiert: Wer unter den Bedingungen von Totalmobilmachung und Massenvernichtungswaffen Krieg führt, kennt keine Grenzen und Schranken mehr.

Ein gerechter Krieg? Wer so spricht, droht hinter Hugo Grotius zurückzufallen und eine Retheologisierung des Krieges zu beteiben – und sei es im Namen der Säkularisierung. Gerechte Kriege müssen immer mit der Dichotomie von Gut und Böse operieren. Das Böse scheint in diesem Fall unwiderleglich: der Terrorismus. Und nichts scheint moralisch legitimer zu sein, als einen Feldzug zu führen, um diesen auszurotten. Was aber ist das: der Terrorismus?

Terror ist eine infame Waffe, ein Instrument, aber weder eine eigenständige Geisteshaltung noch eine politische Ideologie. Und gerade in der reichen Geschichte des linken Terrorismus wurde der Einsatz dieser Waffe immer wieder mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass gerade die Unterdrückten und Ausgebeuteten keine andere Waffe zur Verfügung haben. Terroristen aller Schattierungen bezeichnen sich selbst deshalb auch kaum als Terroristen, sondern als „Kämpfer“, als „Krieger“, als „Armee-Fraktion“, als „Brigade“, als „Kommando“. Gerade aus dem Selbstverständnis von Terroristen stellen ihre Attacken kriegerische Handlungen dar, auf die dann legitimerweise mit Krieg geantwortet werden kann.

Lange Zeit allerdings galt der flächendeckende Krieg eines Staates gegen ein paar Terroristen als eine ziemlich ungustiöse Sache – erinnert sich in Deutschland noch jemand an Heinrich Bölls unsägliches Wort vom Krieg der 6 gegen 60 Millionen? Man kann nicht gegen den Terror an sich Krieg führen, so wenig wie gegen das Böse, sondern nur gegen bestimmte Terroristen, Terrororganisationen oder Institutionen, die Terroristen unterstützen. De facto geschieht auch genau dieses. Die pathetische Stilisierung des Terrors zum Weltfeind hat allerdings dazu geführt, dass heute alle Kriege nur mehr gegen diesen Feind geführt werden, vom Nahen Osten bis Tschetschenien.

Man kann nicht gegen den Terror an sich Krieg führen, sondern nur gegen bestimmte Terroristen

Der „Krieg gegen den Terror“ mutierte zum wohlfeilen Mäntelchen für kühle Interessenpolitik, er schützt vor allzu vielen Fragen, und er erweitert das Spektrum der Optionen: Wer gegen das Böse Krieg führt, muss nicht zimperlich sein, Verletzungen der Menschenrechte und Kollateralschäden sind in der Formel schon inbegriffen. Nebenbei: Die viel gerühmte Allianz gegen den Terror wird genau in jenem Moment zerfallen, in dem des einen Terrorist sich als des anderen Freiheitskämpfer entpuppt – der sich anbahnende Konflikt zwischen Indien und Pakistan nach dem Terrorangriff auf das indische Parlament zeigt dies ziemlich deutlich.

Ein gerechter Krieg? Die Formel ist verführerisch, weil sie die eigene Position immunisiert und den Feind dämonisiert, und ist gerade deshalb dann doch nur mit höchster Vorsicht zu gebrauchen. Wäre es nicht besser, schlicht von legitimen Interessen zu sprechen, die verteidigt werden müssen, wobei allerdings darauf geachtet werden sollte, dass das Völkerrecht dabei nicht pulverisiert wird und vor allem die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt bleibt?

Die Rhetorik des gerechten Krieges könnte auch dazu verleiten, dass gerade nach diesen Gesichtspunkten nicht mehr gefragt werden darf. Wer ein Recht hat, etwas zu tun, hat aber deshalb noch nicht in allem Recht, was er tut. Nach Afghanistan wird Somalia das vielleicht noch brisantere Anschauungsmaterial zu dieser Frage liefern.

KONRAD PAUL LIESSMANN