Weihnachtszeit, Abschiebezeit

■ Wenn es nach der Bremer Ausländerbehörde gegangen wäre, würde die Familie El Zein an Weihnachten igendwo auf der Straße in Istanbul sitzen

Samstag vor Weihnachten, die große Familie El Zein sitzt in ihrer Wohnung am Buntentorsteinweg um den Tisch. Es gibt für sie in diesen Tagen fast nur ein Thema: die drohende Abschiebung. Am Freitag, den 14. Dezember, hätten die El Zeins „abfahrbereit“ um 7.30 Uhr vor ihrem Haus stehen müssen, wenn es nach der Bremer Ausländerbehörde gegangen wäre. Das hatte das Amt jedenfalls drei Wochen vorher per Brief verfügt: 20 Kilogramm Gepäck pro Person seien erlaubt, 500 Mark Reisegeld bekäme die Familie auf die Hand. Reiseziel: Flughafen Istanbul. Und dann? Das ist nicht das Problem der Ausländerbehörde.

Dunja war noch ein Säugling, als ihre Eltern vor dem Bürgerkrieg im libanesischen Beirut flüchteten. Warum will sie nicht in die Türkei? „Weil ich das Land noch nie gesehen habe.“ Sie hat viele Freundinnen in der Schule Kornstraße, arabische und deutsche. Obwohl die Eltern arabisch sprechen mit ihren Kindern, hat sie so viel deutsch gelernt, dass sie hier zurecht kommt. Aber in der Türkei?

„Ich habe da keine Perspektive mehr“, sagt einer der älteren Söhne der Familie El Zein, der 19-jährige Serag. Auch er spricht kein Türkisch, aus dem Libanon kam er hierher, als er sechs Jahre alt war. Seitdem war er nie im Ausland. Nachdem er die zehnte Klasse mit der mittleren Reife beendet hatte, durfte er keine Lehre anfangen – die deutschen Behörden verbieten das. „Seit vier Jahren sollte ich nur herumsitzen“, sagt Serag – wenn es nach den deutschen Behörden ginge. Keine Arbeit, kein Geld, viel Langeweile, keine Perspektive – viel Zeit für dumme Gedanken. „Ein Teufelskreis“, sagt Serag. Wie stark muss ein Jugendlicher sein, um da nicht vom Weg abzukommen, wie man so schön sagt? Der Bruder von Serag hat „Scheiße gebaut“. Serag hat Glück gehabt, er war stark genug und hatte andere, die ihm halfen: Ein Lehrer hat sich für ihn eingesetzt, er darf wieder in die Schule, geht gerade in die 11. Klasse und will Abitur machen.

In der „Nacht der Jugend“ war Serag letztes Jahr dabei, als die Fraktionsvorsitzenden von CDU und SPD im Rathaus acht Jugendlichen in ähnlicher Lage eine „Einzelfallprüfung“ versprachen. Davon hat er seitdem nichts mehr gehört.

„Wenn es wenigstens Sommer wäre, dann könnten wir zelten“, überlegt Serag. Oder soll die Familie in der Türkei in ein Hotel ziehen? Mit welchem Geld? Verwandte oder Bekannte haben die El Zeins in der Türkei nicht, sie sprechen auch nicht türkisch, sondern arabisch, mit libanesischem Akzent. „Ich komme da in den Knast und dann zum Militär“, fürchtet Serag. Unter anderem für ihn gab es kürzlich eine Demonstration. „Es geht um unseren Mitschüler“, erklärte die Schulsprecherin des Schulzentrums Neustadt auf der Kundgebung. „Serag ist einer von uns – kein Fremder!“ Und sie empfahl den Politikern „Nachhilfeunterricht, weil sie anscheinend nicht wissen, wovon sie reden.“

Die jüngsten der Geschwister verstehen überhaupt nicht, was vor sich geht. Naval ist acht Jahre alt, Naina neun, Fatma zwölf. Sie sind die drei Jüngsten, alle in Deutschland geboren. Von der Heimat ihrer Eltern, dem Libanon, haben sie keine Vorstellung. Die Türkei, wohin die deutschen Behörden sie abschieben wollen, ist für sie ein völlig fremdes Land.

Die Abschiebung zehn Tage vor Weihnachten ist nicht an den deutschen Behörden gescheitert, sondern an dem türkischen Konsul. Als die Familie ihm zwei Tage vor der geplanten Ausreise „vorgeführt“ wurde, sprach er sie auf türkisch an – und bekam weder von den Erwachsenen noch von den Kindern eine Antwort. „Arabisch konnte der Konsul aber nicht“, sagt Serag. Eine groteske Szene: Auf deutsch musste der Konsul herausfinden, ob er türkische Landsleute vor sich hatte. Die Frage, ob in solchen Fällen Pässe ausgestellt werden, ist eine rein außenpolitische Machtfrage und hat nichts mit den Personen zu tun, um die es geht. Denn die vorliegenden Dokumente, auf die die deutsche Ausländerbehörde sich stützt, sind offenbar gefälscht. Nicht einmal die Daten stimmen. Vater Nesir soll 1962 geboren sein, die älteste Tochter 1972. Die libanesischen Papiere sind sehr viel plausibler, aber der türkische Konsul wollte sie nicht einmal ansehen. Er weiß, wie leicht solche Papiere in der Region zu haben sind. Bei einer derartigen Sachlage würden deutsche Behörden niemals einen Reisepass ausstellen.

Die Eltern hatten sich 1988 türkische Pässe „besorgt“, um damit über die Türkei nach Deutschland zu fliehen. Diese Pässe haben sie am Flughafen abgegeben und dann unter ihrem richtigen Namen als Libanesen Asyl beantragt. Zehn Jahre hat niemand mehr danach gefragt. Dann wurde plötzlich die Aufenthaltsgenehmigung nur noch monatsweise verlängert und es hieß, die El Zeins seien „Sozialhilfebetrüger“. Aber wovon sollen sie denn leben, wenn sie nicht arbeiten dürfen?

Einer der Söhne hat es mit viel Unterstützung nach einem Jahr Behörden-Bearbeitung geschafft, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Zeki ist inzwischen 27, verheiratet in Bremen, hat zwei Kinder. Er ist Maschinenbau-Techniker. Das soll eigentlich so nicht sein: Perspektivlos sollen die Kinder hier aufwachsen, keine Chance vor Augen. Nicht einmal darum, dass die in Deutschland geborenen Kinder frühzeitig die deutsche Sprache lernen, hat sich jemand gekümmert von den Ämtern des Sozialstaats. In krassem Gegensatz dazu steht der Aufwand, mit dem Polizei und Ausländerbehörde seit Jahren die „Ermittlung“ der türkischen Identität und die Abschiebung der El Zeins betreiben.

Und wie geht es jetzt weiter? „Die haben nichts gesagt“, sagt Serag. „Die Ausländerbehörde weiß auch nichts.“

Klaus Wolschner