Rituale und Gegenrituale

Warum sitzt man mit ungeliebten Menschen am Weihnachtstisch? Warum die ganzen Fensterdekos?
von JOANNA WIÓRKIEWICZ, Polen

„Ist das nicht hübsch?! Guck mal Achim!“, rief eine Dame (Anfang vierzig, in H&M-Jeans und Kunstlederjacke) sichtlich begeistert. Zwei mit Weihnachtsutensilien vollgestopfte Plastiktüten hat sie auf den Bürgersteig gestellt, um sich ganz dem bewunderten Kunstwerk zu widmen. „Ja, es ist hübsch“, gab Achim zu, ebenso mit zwei vollen Plastiktüten beladen, ohne jedoch nur einen Augenblick stehen zu bleiben.

Was die Dame Anfang vierzig so in Verzücken versetzte, war die Weihnachtsdekoration in einem Fenster. Die Deko selbst gab es gleich nebenan zu kaufen, in einem türkischen Import-Export-Geschäft. Von abwechselnd blinkenden Lichterketten umrandet, zeugten in besagtem Fenster leuchtende Schneemänner, Hirsche, Engel und weiß-Gott-was-alles vom unaufhörlichen Ehrgeiz des Designers aus Taiwan. Der Nikolaus blinkte rot und winkte mit der Hand. Das schwache Klingeln von „Jingle Bells“ erreichte die Ohren der Bewunderer.

„Allahs Rache“ nenne ich solche Fensterdekos, die die alljährliche Finsternis in diesem Teil Europas erhellen und zum satten Gewinn der Bewag beitragen, ohne die Stadtkasse strapazieren zu müssen. Adventszeit – je länger, je lieber – das ist das hübscheste, was uns der Handel jährlich gibt.

Bei Aldi fängt das schon Mitte September an – mit Dominosteinen und Persipanstollen. Bei Karstadt etwa Anfang November mit quadratisch-praktisch-guter Schokolade. Dann kommt diese und jene betriebliche Weihnachtsfeier mit Glühwein und Salsa, um endlich den Höhepunkt zu erreichen: den Heiligen Abend – den in Deuschland frustrierendsten von allen Abenden im Jahr. Schade, dass kein Apotheker-Kalender diese Tatsache berücksichtigt, um die entsprechenden Heilmittel dafür anzubieten. Auch Alfred Biolek im Fernsehen hat diese Lücke bislang nicht erkannt und leider keine Hanfplätzchen mit dem hübschesten Mann Bayerns vor unseren Augen gezaubert.

Ich weiss nicht, was schlimmer an diesem Abend ist: die Wut, dass man schon wieder irgendwelche Kompromisse geschlossen hat, um mit ungeliebten Menschen und leerem Gequatsche am Tisch zu sitzen. Oder die Enttäuschung über all die blöden Geschenke. Wahrscheinlich alles zusammen. Die beiden darauffolgenden Tage sind dann nicht ganz so schlimm. Man ist geübt. Sie sind nichts weiter als ein zusätzliches Wochenende.

Aber mit dem langen Heiligen Abend weiß man nicht, was man so richtig machen soll. Ich beobachte jedes Jahr, wie sich meine deutschen Freunde damit quälen. Die einfachste Lösung ist die Familie. Doch die eigene hat man meistens nicht. Also quält man sich wochenlang mit dem Gedanken, zu den Eltern fahren zu müssen. Diese öffentliche Quälerei gehört längst zu den deutschen Adventsritualen. Bei Mutti wird alles hübsch vorbereitet und um 18 Uhr beim Kerzenschein wird die Gans serviert.

Im besten Fall ist um 19 Uhr Schluss. Die Mutti wird das hübsch verpackte Päckchen aufmachen und sich über eine weitere Salatschüssel riesig freuen. Dabei wird Helmut Lotti im Fernsehen die Weihnachtslieder hübsch singen, und damit ist das Thema abgehakt.

Die Transformation der Weihnachtsrituale in Deutschland wäre einer guten Feder würdig. Eines heimlichen Bourdieus beispielsweise, falls er eines Nachts hierzulande geboren werden sollte. Meine deutschen Freunde sind auf ihre Abneigung gegenüber Ritualen sehr stolz und wissen, dass es auch seinen Preis hat. Ich habe aber den Verdacht, dass sie die alten Rituale längst durch neue ersetzt haben. Und die sind keineswegs besser.

Der Heilige Abend kann für viele Forscher deshalb ein soziales Labor sein, ein Seismograf für die komplexen Probleme dieser Gesellschaft. Ich aber als Laie sehe vor allem eins: den Gedächtnisschwund, den Verlust der Bedeutung von Ritualen, die Entwurzelung.

Man ist sich gar nicht mehr bewusst, dass uns dieser Abend zur eigenen Kindheit zurückbringen soll, uns für eine – eben lange – Nacht unsere einstmals naiven Träume, Illusionen und Glauben an einen Weihnachtsmann, der unsere Wünsche gern erfüllt, wieder schenken soll. Wir brauchen ihn, um unsere kindlichen Träume und Pläne mit unseren heutigen Erfolgen und Misserfolgen zu vergleichen. Und um eine Abweichung vom Weg zu vermeiden.

Um dieses Wunder geschehen zu lassen, brauchen wir eben die Zutaten: den geschmückten Tannenbaum mit dem Duft des Waldes, wir brauchen Lebkuchen, Nüsse, Kerzen, Myrre, Gold und Weihrauch, die den Spuk des grauen Alltags für eine Weile vertreiben. Das Wunder dieser Nacht liegt darin, uns zu zeigen, dass wir selbst die Magier sind. Alle. Vorausgesetzt – wir versperren uns den Blick ins Innere nicht durch die blinkende Fensterdeko.

Joanna Wiórkiewicz wurde 1954 in Ząbkowice Śląskie geboren und lebt seit 1988 in Berlin. Sie ist freie Journalistin, Lyrikerin und Schriftstellerin.