Bomben sind Bomben

Die Kriege in Afghanistan waren nicht unsere, sagt die Ärztin Azadine. Sie sammelt Namen: Von Vergewaltigern, von Bombenopfern. Und sie sammelt Weihnachtswünsche für ihr Land
von SIBA SHAKIB

Stille Nacht. Heilige Nacht. Nicht für meine afghanische Freundin Azadine. Und das, obwohl sie zurzeit in Deutschland ist. Sie macht es wie der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie kämpft für Frieden. Der Präsident kämpft mit Bomben. Azadine mit Zetteln. Azadine zeigt ihre Zettel westlichen Politikern und Exilafghanen. Wieder und wieder. Stundenlang.

Seit über zwei Jahrzehnten, macht sie immer wieder das Gleiche. Sie spricht und kämpft und kämpft und spricht. Über die Lage in ihrer Heimat. Sie tauscht Ideen aus. Diskutiert. Streitet. Es geht um die Zukunft in ihrer Heimat. Um die Zukunft ihrer Kinder. Um ihre eigene Zukunft. Seit über zwei Jahrzehnten. Immer wieder. Zukunft.

Azadine ist Ärztin, sie hat durchgehalten. Sie hat eine Einreiseerlaubnis in die USA, und sie kann jederzeit nach Europa. Beides liebt sie, aber Azadine lebt weiter in Afghanistan. Denn mehr als die USA und Europa liebt Azadine ihre Heimat, ihre Berge, den Hindukusch, die endlose Weite. Sie liebt Kabul, Herat und Bamiyan. Sie liebt die Menschen, ob Hazara, Paschtunen oder Tadschiken. Sie liebt die Luft, die im Winter dünn und zerbrechlich ist wie aus winzigen Glassplittern und im Sommer so dick und zäh, dass alles ruhig wird und man im Stehen einschlafen könnte. Azadine liebt die bunten Mohnblumen und die saftig kräftigen Granatäpfel. Sie sehnt sich nach dem sorglosen Gesang der Kinder in den Gassen und Tälern und einem belanglosen, unbekümmerten Plausch mit Freundinnen, im Schatten der Maulbeerbäume.

Aber bevor es so weit ist, muss noch viel passieren in Azadines Heimat Afghanistan. Vor allem für die Frauen. Ob in den Dörfern, Städten oder in den Zelten der Nomadinnen - die Frauen wollen Frieden. Für die Frauen in Afghanistan bedeutet Frieden, dass die Länder, die ihnen seit 23 Jahren nichts als Krieg, Minen und Tote, Hunger, Krankheiten und Vergewaltigungen gebracht haben, ihre Minen, Waffen und Soldaten nehmen, das afghanische Volk um Vergebung bitten und gehen. Gehen.

Bomben sind Bomben, sagen Azadine und ihre Freundinnen. In wessen Namen sie geworfen werden, macht für uns keinen Unterschied. Alles, was wir wissen, ist, dass Bomben töten. Statt Bomben zu werfen, Krieg zu führen und ihre Söldner nach Afghanistan zu bringen, soll die Welt uns endlich helfen, unser Land wieder aufzubauen. Schließlich sind die über zwei Jahrzehnte andauernden Kriege nicht die der Afghanen. Nachdem die Sowjetunion und die USA abgezogen sind, haben Pakistan, Iran, Saudi-Arabien und wer weiß, wer sonst noch, und allen voran die USA ihren Krieg in Afghanistan fortgesetzt. Anders. Aber sie haben ihn fortgesetzt. Sie haben ihre Minen und Waffen zusammen mit ihren Agenten und Spitzeln, zusammen mit ihren Söldnern und Marionetten in Afghanistan gelassen und haben sie angestachelt. Zum Krieg. Zum Brudermord.

Und auch der jetzige Krieg ist nicht der Afghanistans. Schließlich sind weder die Taliban noch Bin Laden eine Erfindung der Afghanen, sondern sie sind gezüchtet von Pakistan, Saudi-Arabien und den USA. Jahrelang haben die Afghanen unter dieser grausamen, ausländischen Hinterlassenschaft gelitten. Und jetzt, da die Welt gekommen ist, ihren Müll wegzuräumen, müssen wieder Zivilisten sterben. Viertausend. Fünftausend. Azadine hat sich angewöhnt, Namen zu sammeln.

Das letzte Mal hatte sie Namen von Vergewaltigern dabei. Dieses Mal stehen Namen von Toten auf ihren Zetteln. Zerknitterte, zerknüllte, verschwitzte, mit Tränen benetzte Zettel. Zettel mit Namen von Kindern. Jungen und Mädchen. Frauen und Männern. Getötet von Bomben der USA und ihrer Verbündeten. Azadine und die Hinterbliebenen klagen an. Es gibt immer mindestens einen anderen Weg als Krieg, sagen sie. Das Mindeste, was der Westen und die UN hätten tun müssen, bevor sie ihre Bomben auf Afghanistan abwerfen, wäre die Einrichtung von Schutzzonen für die zivile Bevölkerung gewesen. Die früheren Freunde, jetzigen Feinde der USA und des Westens, die Taliban und Bin Laden, sind noch nicht gefangen. Keiner weiß, ob sie überhaupt noch in Afghanistan sind.

Die meisten afghanischen Taliban waren nur dabei, weil sie gezwungen wurden, weil man ihre Familien sonst getötet hätte. Die meisten afghanischen Männer sind nur Taliban geworden, weil sie und ihre Familien Hunger gehabt und keinen anderen Weg gewusst haben, am Leben zu bleiben. Mit Geld und Brot hätte man diese Taliban zum Überlaufen bewegen können. Viel schneller und ohne Streubomben und tote Zivilisten. Und die anderen? Die so genannten arab-afghans, die Söldner? Viele von ihnen sind freigelassen worden. Frei laufen sie herum und marodieren. Frei laufen sie herum und haben große Teile des Landes unter ihrer Kontrolle. Frei laufen sie herum und treiben ihr Unwesen. Frei.

Einerseits, sagt der Westen, sei jetzt alles gut. Die Bomben seien gut. Der Krieg sei gut. Die Wahrheit ist: In Afghanistan herrscht Anarchie. Auf den Straßen, die die Städte miteinander verbinden, lauern Minen und Wegelagerer, Diebe und Vergewaltiger. Selbst Hilfskonvois kommen nicht durch. In den Städten kämpfen wieder einmal selbst ernannte Herrscher um die Macht und nehmen den Menschen ab, was immer sie für ihren heiligen und wieder vom Westen gesegneten und unterstützten Krieg und ihre Macht brauchen: Tiere, Wasser, Lebensmittel, Frauen. Wieder werden Mädchen und Frauen verschleppt, missbraucht, vergewaltigt. Wieder bleiben die Frauen in ihren Häusern eingesperrt. Wieder können sie nur in männlicher Begleitung auf die Straße, wieder nur von Kopf bis Fuß verschleiert. Wieder dieses, wieder jenes. Wieder nichts Gutes. Nicht für die Kinder, nicht für jene, die keine Macht haben, jene, die keine Waffe haben, jene, die Mädchen und Frauen sind.

Der Westen aber beharrt, sein Krieg sei ein guter Krieg. Andererseits sagt der Präsident der USA, sein Krieg sei noch lange nicht gewonnen, noch lange nicht vorbei. Wir halten seinen Krieg, unser Sterben und alles andere aber nicht mehr lange aus, sagen die Frauen in Afghanistan. Sein Krieg, unser Sterben.

Heute Morgen war Azadine nervös. Ich hatte einen Traum, sagt sie. In der Nacht ist ein Engel zu mir gekommen und hat gesagt, Azadine, wünsch dir was, es ist Weihnachten, der Gott der Christen erfüllt Wünsche.

Ganz oben auf dem Haufen Zettel mit den Namen der Toten liegt jetzt Azadines Wunschzettel für Afghanistan. Frieden!, steht an erster Stelle. Ruhe und Frieden. Abzug aller fremden Soldaten. Und sie sollen ihre Waffen und Bomben und Minen nicht vergessen. Wir brauchen Tribunale. Männer, die gemordet, geplündert, vergewaltigt haben, in wessen Namen auch immer, müssen vor Gericht. Auch ihre Namen hat Azadine gesammelt. An dritter Stelle auf Azadines Wunschzettel steht: Länder, die all diese Verbrechen überhaupt erst möglich gemacht haben, müssen ebenfalls zur Rechenschaft gezogen werden, und sie sollen zumindest Wiedergutmachung leisten. Truppen der Vereinten Nationen sollen unsere Grenzen überwachen, damit keine Waffen, keine vom Ausland bezahlten und gezüchteten Söldner und Terroristen in unser Land gelangen. Stattdessen sollen Lebensmittel ins Land kommen. Saatgut. Medikamente. Decken. Verbandzeug. Spritzen. Stattdessen sollen Papier, Tinte und Druckmaschinen ins Land kommen. Bücher und Hefte. Nicht erst wenn die Waffen schweigen. Jetzt. Damit die Waffen zum Schweigen kommen. Jetzt müssen Schulen aufgebaut werden. Für Mädchen und für Jungen.

Krankenhäuser sollen aufgebaut werden. Ärztinnen sollen ihre Ausbildung zu Ende bringen. Universitäten sollen sofort ihren Betrieb aufnehmen. Junge Frauen und Männer sollen sofort ihr Studium beginnen. In den Ministerien sollen jetzt sofort Frauen eingestellt werden, nicht erst wenn eine legitime Regierung die Macht übernommen hat. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Damit die Regierung überhaupt erst eine legitime werden kann. 65 Prozent der Bevölkerung sind Frauen. Entsprechend hoch muß die Zahl der Ministerinnen und Abgeordneten sein. Die Loya Jirga, die im Frühjahr zusammenkommen soll, muß zu 65 Prozent aus Frauen bestehen. Die Männer haben gekämpft.

Wenn überhaupt noch jemand in Afghanistan weiß, wie das zivile Leben aufgebaut, organisiert und aufrecht gehalten werden muss, dann sind es die Frauen. Die Frauen in Afghanistan sind nicht nur Opfer - sie klagen an, und sie haben Forderungen, sagt Azadine, und wir werden dafür kämpfen. Und dann fragt sie, glaubst du, der Gott der Christen wird zum Fest des Friedens auch unsere Wünsche erfüllen, die Wünsche der afghanischen Frauen? Die Antwort auf ihre Frage will Azadine nicht hören.

In ein paar Tagen wird Azadine wieder in ihre Heimat zurückgehen. In ihrem Gepäck hat sie viele gute Versprechen, viele gute Ideen, viele Zettel, Geld für die Frauen. Und vor allem wird Azadine viel Hoffnung mitnehmen. Die Hoffnung, dass dieses Mal endlich alles gut wird in ihrer Heimat.