Zwillinge der Gewalt

Vergeltung zu üben heißt, sich zum Zwilling der Gewalt zu machen. Dabei kann sich jeder ausrechnen, dass eine Antwort „in der gleichen Sprache“ Terror nicht verhindert

von CHRISTINA THÜRMER-ROHR

Kriege sind dazu angetan, einfache Erkenntnisse zu schaffen. Zum Beispiel werden wir – die Kriegszuschauer/innen – dumm gehalten und für dumm verkauft, und großenteils benehmen wir uns dementsprechend. Uns wird beigebracht, dass das Wort „Krieg“ seine Bedeutung geändert hat. Kriege sind keine Kriege mehr, sondern Kämpfe fürs Gute, Menschenrechtshersteller, gerecht und gewinnbar. Sie schaffen Demokratie, Gleichberechtigung und Sicherheit, Streubomben sind Strafmaßnahmen, Humanität gleicht die Schäden aus. Diese Gleichungen sollen wir lernen. Wer anderes sagt, stört. So sehen wir dem Zusammenbruch des Politischen im Windschatten des globalen Terrorismus zu.

Wir wurden getäuscht über Kriegsziele und -strategien. Wir sollten akzeptieren, dass jede Alternative zur Kriegsentscheidung naiv gewesen wäre, außerdem „fatal für Deutschland“. Egal wie zahlreich die Flüchtlinge und die Kriegsopfer, wie vorhersehbar die Kriegsausweitung, wie fadenscheinig die rechtlichen Begründungen, wie illusionär der Glaube an die Abschaffung des Terrors, wie einflusslos die Verbündeten, wie zwangsläufig die erneute Verzweiflung an Politik und Demokratie – die Heimatfront steht. Wir sind unschädlich geworden.

In Kriegszeiten wird „das Böse“ bemüht, um uns zu zeigen, wo der Erzfeind steht und wo das Gute. Dafür wird den Bevölkerungen eine giftige Mischung aus mittelalterlicher und moderner Ideologie vorgesetzt: „das Böse“ als Teufel, der versteckt und dezentral operiert, überall anwesend, aber immer außerhalb von „uns“; und das Böse als etwas, das man orten kann, um es ein für alle mal zu vernichten – eine Utopie der Säuberung.

„Wir haben das Recht, in der gleichen Sprache der Terroristen zu antworten“ – diese Behauptung scheint auch in Deutschland den Mehrheiten einzuleuchten, obwohl der Konflikt diffus und damit die Frage unbeantwortbar ist, wem genau diese Antwort gelten soll. Der Satz enthält eine fatale Logik: Wir haben das Recht, Zwillinge der Gewalt zu sein. Dabei kann sich jeder Mensch ausrechnen, dass eine Antwort „in der gleichen Sprache“ Terror nicht verhindert, die Fahndung nach den Tätern erschwert, Unbeteiligte umbringt, den antiwestlichen Hass mit zusätzlichem Erfahrungsstoff füllt. Der Kampf gegen den Terror greift selbst zu terroristischen Methoden. Die Protagonisten lassen sich auf ein und dieselbe Gewalt reduzieren.

„Zwillinge der Gewalt“ waren – wie der französische Kulturanthropologe René Girard gezeigt hat – bei unseren weniger aufgeklärten Vorfahren gefährlichste Gewaltverdoppler und -vervielfacher, ein Symbol bösartigster Ansteckungsgefahr. Wenn schon Gewalt überhaupt nicht abgeschafft werden konnte, so waren doch Wege zu suchen, um deren epidemische Ausbreitung zu verhindern. In vormodernen Gesellschaften verschiedenster Kulturen galt die größte Furcht einer Reziprozität, mit der sich Gewalt durch „gleichartig“ agierende Gegner potenziert. Als eigentlich „böse“ galten die Teufelskreise, die in Gang gesetzt werden, sobald Gewalt in gleicher Sprache vergolten wird. Was deshalb unbedingt zu vermeiden war, war die spiegelbildlich Gewalt wiederholende Antwort. „Zwillinge der Gewalt“ kennzeichneten den Verlust der Differenz zwischen denen, die mit Gewalt anfangen, und denen, die auf sie reagieren. Nur eine Antwort, die vom Anlass abwich und jede Nähe zu ihm mied, war in der Lage, den Geist der vorgängigen Tat zu löschen.

Bei der Suche nach solchen umlenkenden Antworten kann man zwar aus den historischen Lehren nichts kopieren, denn die Opferriten, die der Gewalt Einhalt gebieten sollten, wird niemand wiederbeleben wollen. Aber im Kern jener alten Strategien gegen komplementäre Gewalt und eine durch das „Recht auf Rache“ provozierte Folgegewalt steckt eine pragmatische Klugheit.

Diese ist durch moderne Gerechtigkeitsnormen nicht gerade gestärkt worden. Und bei den zurzeit agierenden Politikern scheint sie vollends verschwunden zu sein. Die Terrorantwort, die aus Bomben und Raketen kommt, ist Gewalt und nicht Macht, sie bringt in das ganze grauenhafte Geschehen keine Kursänderung, keine überraschende Idee, die „aufhören“ ließe und neue Anhängerschaften und zusammengebombte Solidarisierungen einschränken könnte.

Das Verhältnis zwischen islamischer und westlicher Welt zeigt kaum Spuren solcher „anderen“ Antworten – nicht erst heute. Die Spaltungen sind von komplementär aufeinander bezogenen Reaktionsweisen geprägt. Schon seit dem 19. Jahrhundert war der islamistische Rückzug auf das Religiöse eine Rückspiegelung der Wahrnehmung des Westens, Muslime seien rückständig, unmündig und dem Westen unterlegen, weil sie immer noch ihrer Religion unterworfen seien, statt sich wie „wir“ von ihr zu emanzipieren. Im Umkehrschluss antwortete der islamistische Fundamentalismus mit einer Definition der Moderne als westlicher Pest und mit der Rückkehr zur Urform des Religiösen als Gegenspiegel. Die Chance des Westens wäre es gewesen, Urteile wie Vorurteile gegen die eigene Kultur und ihr widersprüchliches Erbe, das ja nicht nur Gewalt- und Vergeltungsinstrumente enthält, mit voraus- und zurückschauenden Antworten langfristig zu entkräften. Diese Hoffnung ist vorläufig, wahrscheinlich langfristig verspielt. Wer glaubt, die gleiche Sprache der Gewalt sei gerecht, dokumentiert die eigene Distanzlosigkeit zur Gewalt, kalkuliert ihre Fortpflanzung und Verschärfung ein, nimmt die elenden und tödlichen Folgen für Andere in Kauf, übergeht die Frage nach den Ursachen, lässt den Gewaltfall erst mit der monströsen Terrortat beginnen, schließt damit aus, dass auch der Terror eine Geschichte hat, trennt diese Geschichte aus ihren Zusammenhängen mit der eigenen Geschichte, sieht sich im Besitz der einen Wahrheit und legt damit weiter die Axt an jeden Dialog.

Das alles haben wir früher patriarchal genannt – ein Wort, das ein Schlüssel zur Analyse jener unsäglichen Logiken gewesen ist und das heute kein Mensch mehr benutzt. Dabei ging es nie darum, sämtlichen Männern sämtliche Gewalt zuzuschieben, sondern darum, sich die Monogeschlechtlichkeit einer politischen Geschichte zu vergegenwärtigen, in der Vergeltung ein legitimes Motiv organisierter und persönlicher Gewalt war, ein Zweck, der die Mittel heiligt und ebenso diejenigen, in deren Händen sie untergebracht war – Männer. In dieser Geschichte mit allen ihren veränderungsrenitenten Niederschlägen haben Frauen auf erfahrene Gewalt nicht in gleicher Sprache geantwortet. Rächen konnten sie sich wenig, zumindest nicht mit gleichen Mitteln, sie hatten kaum Zugang zu den Gewaltwerkzeugen, vielleicht auch kein besonderes Racheinteresse, sofern sie auf männliche Gunst angewiesen waren. Jedenfalls ist die Vergeltungsgewalt unsere Geschichte nicht, eher die Vergeltungsdelegation. Das Vergeltungsgeschäft haben die Frauen an ihre Männer, ihr Militär, ihren Staat abgetreten.

Die Stärkeren tun, was sie können, die Schwächeren dulden, was sie müssen. Nach diesem Prinzip werden Kriege geführt und gebilligt und wird der Krieg nach dem Krieg fortgesetzt. Zwar ist das Delegieren und Dulden von Vergeltungsgewalt grundsätzlich keine ehrenwertere Leistung als das gewalttätige Agieren selbst. Eine der Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts sagt, dass Dulden nicht einfach ein anderes Wort für Machtlosigkeit, sondern ein anderes Wort für Komplizenschaft ist und Gehorsam ein anderes Wort für Unterstützung: unentbehrliche Bestandteile des Gewaltensembles. Dennoch, zu „Zwillingen der Gewalt“ sind Frauen nicht geworden. Ob diese Tatsache allerdings irgendetwas besagt, ob der distanziertere Verwandtschaftsgrad zu den Gewaltbrüdern überhaupt politische Auswirkungen hat, kann sich erst unter Beweis stellen, wenn Frauen – Menschen mit einer anderen Geschichte – in den heutigen Kriegsfragen vom Gewaltkonsens abwichen: wenn sie öffentlich zu eigenen und anderen Urteilen kämen, wenn diese also ein Risiko würden für das unermüdliche Fortschreiten im Mainstream der Einbahnstraßen.

Das Böse ist banal, hat Hannah Arendt gesagt. Und damit meinte sie nicht nur die Taten im Schutze des Schreibtisches. Sie meinte das Böse überhaupt, weil es keine Tiefe habe: eine Pilzwucherung an der Oberfläche. Die heute vorgeführte Antwort auf den Terror ist banal, weil sie das immergleiche Weiterso mit neuen Rechtfertigungen fortsetzt, weil sie das, was sie anrichtet, ausschließlich im eigenen Interessenshorizont aufnimmt, weil sie keine andere Dimension kennt als vermutete Vorteile und mitgebrachte Vorurteile, weil sie ignorant bleibt gegenüber den Ursachen und indifferent gegen- über den Opfern. Außerdem bleibt sie indifferent gegenüber der politischen Aufgabe, mit allem Risiko Unterschiede zwischen Gewalt und Antwort zu suchen und zu erfinden. Was wir jetzt mit ansehen: die böse monströse Tat und die gute monströse Antwort, löscht jede Moral und macht aus Gut und Böse nichts anderes als ein Lokalisierungsproblem – „wir“ und „die Andern“.