Das Los hat getroffen

„Ich will keinem raschen Reflex nachgeben, ich will gegen Gewalt sein, denn Gewalt findet immer irgendein Opfer - aber warum soll ich nicht auch meine Werte militant vertreten?“

von ELFRIEDE JELINEK

Ich kann nichts dazu sagen. Ich sollte nichts dazu sagen. Es ist mir ja das von schriftlich niedergelegten Riten für die Beerdigung (keine Frauen!) umschlungene Selbstopfer, das möglichst viele mit in den Tod reißen sollte, schon unbegreiflich. Die Mörder nennen gute Gründe, warum sie sich selbst entfesselt haben, aber sie haben auch noch den Wunsch nach Gewalt an vielen anderen Orten aufgeweckt, und dieser Wunsch wird täglich größer. Man kann dabei zuschauen. Man kann sich selbst dabei zuschauen. Ich selbst bemerke auch bei mir Fanatisierungstendenzen, als ob dieser Wunsch nach Gewalt schließlich auch bei mir geweckt worden wäre, und so sollte ich besser eben nichts sagen, denn in dieser Art der Raserei sucht man überall Objekte, die Opfer werden könnten. So könnte bei mir jetzt ein Hass auf den Islam sehr leicht geweckt werden, das merke ich mit Schrecken. Ich will zwar immer versuchen, die Zivilcourage aufzubringen, einem gesellschaftlichen Klima, in dem Musliminnen (besonders leicht kenntlich!) und Muslime an der Ausübung ihrer Religion gehindert würden, entgegenzutreten und den Einzelnen, der sein Recht auf Religionsfreiheit und Unversehrtheit wahrnimmt, zu beschützen. Hoffentlich werde ich im entscheidenden Moment den Mut dazu haben, ich bin leider ziemlich feige. Aber was kommt mir da zurück? Was schaut mich da an? Fromme Gelehrte mit Bärten, ruhige Frauen in Schleiergewändern, die die Friedfertigkeit des Islams beschwören, mit leiser, sanfter Stimme. Es habe ja auch viele Muslime unter den Opfern gegeben. Aber welche von ihnen haben sich der Wut von gewalttätigen Religionsfanatikern entgegengestellt, einer Wut gegen harmlose Schriftsteller, Salman Rushdie, Taslima Nasreen (Übersetzer sind umgebracht worden!), gegen muslimische Intellektuelle, deren Partnerinnen man zur Scheidung zwingen wollte? Ich weiß nicht, ich versuche mich zu kontrollieren, ich will nicht sprechen wie Oriana Fallaci, ich will keinen allzu raschen Reflexen nachgeben, ich will gegen Gewalt sein, denn Gewalt findet immer irgendein Opfer, und wenn sie keins findet, wird sich schon eins finden. Aber wer will mich daran hindern, dem islamistischen Faschismus entgegenzutreten, wie ich jedem Faschismus entgegentreten würde? Warum soll ich nicht auch meine Werte militant vertreten dürfen? Redefreiheit, die Gleichheit der Geschlechter, die Trennung von Religion und Staat. Es ist, als wären diese tausende Opfer in New York Tiere gewesen, die als Stellvertreteropfer willkürlich und blind ausersehen wurden von wenigen, für wenige, die sich über alle anderen gestellt haben, im Namen der Reinheit ihrer Religion. Nicht für Palästina, nicht für die entrechteten Massen der Dritten Welt, sondern für eine wahnsinnige Reinheit, der letztlich nur sie selbst entsprechen können, indem sie sich opfern. Am saubersten wird, was nicht mehr existiert (der Sauberkeitswahn in des Attentäters Atta Testament!). Das Los hat getroffen. Ich höre bis heute kaum irgendwelche Bannflüche der großen Gelehrten der islamischen Welt gegen diese rasenden Weltlehrer mit ihren Stöcken, reitend in Flugzeugen, ich höre keine Schreie, beinahe nur Flüstern. Die Objekte meines Hasses, die glaubten, ihre guten Gründe zur Gewalt gehabt zu haben, zur Gewalt gegen sich selbst, aber vor allem gegen andere, die sie in maßloser Selbstüberhebung bestimmt haben, Unschuldige, die für irgendwelche eingebildeten Schuldigen und für irgendeine Schuld, die von den Tätern willkürlich behauptet wurde, zahlen mussten (und immer, immer die Gewalt gegen Frauen, die offenbar eines nie zu sühnenden Verbrechens schuldig sind, bloß weil sie überhaupt da sind, daher muss man sie verbergen, aber für Vergewaltigungen sind sie immer noch gut genug, verborgen oder nicht), diese Objekte sind außerhalb meiner Reichweite, aber ich werde mir keinen Ersatz für sie suchen. Das ist der Punkt. Nicht einmal einen anonymen Bruder, eine anonyme Schwester oder ein Tier werde ich opfern. Diese Zeiten sind vorbei. Ich werde Amerika holen. Die werden jetzt die für mich nicht Erreichbaren zerstören. Das machen die. Meine Stellvertreter: ganz Amerika. Ich bin dafür, aber ich weiß noch nicht, ob sie es richtig machen. Ich hoffe es. Aber wissen kann ich es nicht.