Operation frohes Fest

Die Weihnachtsvorbereitungen bei der Großfamilie Erdmann sind eine logistische Herausforderung

aus Berlin KIRSTEN KÜPPERS

Das Stück Papier, das die letzte Jahreshälfte bestimmt hat, steckt zusammengefaltet in der Hosentasche ihrer hellen Jeans. Ein Zettel mit Namen und Weihnachtswünschen. Fast sechs Monate ist Sabine Erdmann für diesen Zettel schon unterwegs, die Liste ist lang, weil die 40-Jährige eine Menge Kinder hat. Wie viele es genau sind, ist Ansichtssache. Manche sagen acht, manche zwölf. Als Sabine Erdmann ihren Mann Rainer vor elf Jahren kennen lernte, brachte jeder von ihnen bereits vier Kinder aus erster Ehe mit, zusammen haben sie noch mal vier Kinder in die Welt gesetzt. Von den Älteren sind mittlerweile einige ausgezogen, das letzte Baby ist erst vor fünf Monaten geboren worden. Derzeit lebt Sabine Erdmann jedenfalls dicht gedrängt mit sieben Kindern, ihrem Mann, sieben Wellensittichen und einem kleinen Hund im vierten Stock eines elfgeschossigen Plattenbaus im Ostberliner Stadtteil Marzahn.

Es heisst ja, Hausfrau und Mutter zu sein ist wie Managerin eines kleinen Unternehmens. In dieser Logik ist Sabine Erdmann Chefin eines Großkonzerns, eines Betriebs, der über die Jahre ins Gewaltige expandiert ist. Dass die Leitung eines solchen Unternehmens an Weihnachten nicht einfacher wird, versteht sich von selbst.

Wo für ein Mittagessen fünfundvierzig Bouletten nur knapp reichen, wo jeden Tag mindestens zweimal die Waschmaschine läuft, wo ein Säugling und ein 18-Jähriger gleichzeitig Probleme machen, wo die Eltern auf einer Ausziehcouch im Wohnzimmer schlafen, wo 39 Pfennig für ein Frühstücksbrötchen zu teuer sind – da ist Weihnachten eine logistische und organisatorische Herausforderung. Sabine Erdmann sagt: „Für mich geht Weihnachten schon im August los.“

Die Konzernchefin

Folglich verliert die Konzernchefin auch keine Zeit an diesem Adventssonnabend, an dem sie erklärt, wie die Operation Weihnachten funktioniert. Wenn sie sich ins Wohnzimmer setzt, dann sitzt sie nicht nur, sondern sortiert auf dem Couchtisch Strümpfe in neun Haufen. Eben hat sie das Baby gefüttert. Die Cousine, die zu Besuch ist, bekommt „noch ’ne Pfütze Kaffee“ aus der Thermoskanne. Sabine Erdmann leert die Aschenbecher, gleich muss sie noch die Angebote der Werbeprospekte vergleichen. Wenn sie im Leben Übersicht behalten will, schreibt sie sich lange Listen.

Wie den Zettel mit den Wünschen: Für Mona-Liza ein Fahrrad, für Max einen Gameboy, für Paul ein Feuerwehrauto, für Mandy einen Teddyrucksack, für Philipp einen Pullover. Und so weiter, und so fort. Mit der Liste fängt Sabine Erdmann schon im Sommer an. Einkaufen kostet Zeit, wenn man jeden Pfennig umdrehen muss, und die Familie hat wenig Geld.

Erdmanns achten da allerdings auf Unterschiede. Sie sind stolz, dass sie keine Sozialhilfe beziehen. „Wir sind ja keine Assis“, erklärt Mandy, die 17-Jährige, als ob mit dieser Form der staatlichen Fürsorge die Verwahrlosung automatisch einherginge. Mandy hat ein eigenes Zimmer, das sie hellblau gestrichen hat und das sie abschließt, wenn sie nachmittags auf dem Bett liegt und Musikvideos guckt. Das Zimmer ist aufgeräumt. Mandy muss im Haushalt beim Staubsaugen und Badezimmerputzen helfen. Regelmäßig. Nicht nur, wenn gerade Weihnachten ist und die Feierlichkeit besondere Sauberkeit verlangt.

Zum Leben stehen der Familie monatlich insgesamt 4.300 Mark zur Verfügung. Kindergeld, Erziehungsgeld und Arbeitslosenhilfe. Die Miete für die hundert Quadratmeter große Fünfzimmerwohnung zahlt sie von weiteren 1.300 Mark Erziehungsrente, die Frau Erdmann seit dem Tod ihres ersten Mannes vor acht Jahren erhält. Ihr jetziger Mann Rainer, ein Kraftfahrzeugschlosser, ist seit 1991 arbeitslos gemeldet. Seither übernimmt er in der Familie nachts das Tischdecken für das Frühstück am nächsten Morgen. Oft hilft er auch beim Kochen oder Einkaufen. Er ist ein großer dünner Mann von 52 Jahren, meist klebt ihm eine Zigarette im Mund. Sein Beitrag zu den Weihnachtsvorbereitungen ist schnell beschrieben: „Zum Glück hat er die ganze Wohnung mit Hängeböden ausgebaut“, meint Sabine Erdmann.

Die Geschenkereise

Dort oben unter den Hängeböden an der Zimmerecke, auf dem Hochbett im Babyzimmer und in Schrankecken sind bis Heiligabend die Geschenke verstaut. Die Helfer eines Wohltätigkeitsvereins haben ein gespendetes Fahrrad für die fünfjährige Mona-Liza geliefert. Die Computerspiele für ihre Söhne hat Frau Erdmann gebraucht in „Detlef’s Trödelscheune“ gefunden. Das Feuerwehrauto für Paul und den Teddyrucksack für Mandy gab es günstig in der Kaufhalle. Die Bettgarnitur für den 18-Jährigen, der bald auszieht, hat Frau Erdmann für nur 19,90 Mark im Asia-Markt entdeckt.

Schließlich hat die monatelange Reise durch Import-Export-Geschäfte, Discounter und Second-Hand-Läden ein Ende gefunden, Sabine Erdmann muss keine Ostberliner Vietnamesenmärkte mehr ablaufen, nicht mehr die Gebrauchtwarenspalten der Zeitungen durchsuchen. Die Weihnachtsliste behält sie bis zum Schluss in der Hosentasche. Sie darf die Batterien für die Computerspiele nicht vergessen.

Man muss sich ein solches Leben nicht aufhalsen. Die Mühe, die Enge, die Sorgen ums Geld, alles wegen der Kinder. Bei Frau Erdmann stand das schon früh fest, sagt sie, der Traumberuf war Kindergärtnerin. Eine Idee, von der sie als junge Frau einfach nicht abkommen wollte. Zu DDR-Zeiten habe man sie nicht in die Krippe gelassen. „Da musste ich mir eben meinen eigenen Kindergarten machen.“

Weil die Mutter seither nicht mehr auf sich selber guckt, erzählt die Cousine beim Adventskaffee, sondern nur zusieht, dass ihre Kinder von allem genug bekommen, findet bei Erdmanns vor den Feiertagen an jedem Wochenende Plätzchenbacken statt. Mandy schubst den kleinen, hellbraunen Hund vom Schoß, dreht in der sechs Quadratmeter schmalen Küche den CD-Player mit Wolfgang Petrys Version von „Jingle Bells“ laut und rührt mit dem elektrischen Mixer einen fettreichen Teig zusammen, den die vier jüngeren Geschwister auf dem Tisch in kleineren Klumpen weiter verarbeiten. Insgesamt werden vor Weihnachten etwa fünfunddreißig Bleche Plätzchen produziert. Die Mengen reichen nie länger als drei Tage. „Wir sind alle starke Esser“, erklärt Sabine Erdmann.

Deswegen geht das Einkaufen für das eigentliche Fest schon eine Woche vorher los. Mehrmals täglich ein Hin- und Herpendeln zwischen Erdmanns Wohnung und der Ladenzeile im Plattenbaugebiet. Lebensmittel für gewaltige Portionen werden benötigt. Für Heiligabend ist eine „Schmackofatzi“-Mahlzeit aus Kartoffelsalat, Bouletten und Würstchen geplant. Allein siebeneinhalb Kilo Kartoffeln müssen dafür geschält werden. Herr Erdmann behauptet, er schafft das in zwanzig Minuten.

Währenddessen wird sich seine Frau am 24. Dezember zur letzten Etappe zurückziehen, wird sich ins Wohnzimmer einsperren, wo die „Christkrücke“ vor dem Fenster steht, wie Sabine Erdmann den hohen Weihnachtsbaum nennt. Sie wird sich „Stille Nacht, heilige Nacht“ von Heintje anstellen, sich gemütlich zwischen die Geschenke auf den Teppich setzen, ein wenig mitsummen, Schokoriegel und Nikoläuse auf zehn verschiedene Weihnachtstütchen verteilen. Eine kleine Insel der Ruhe.

Mandy nennt diese Stunden „den grauenvollsten Tag im ganzen Jahr“, weil sie die Konzentration ihrer Mutter vor dem Gewimmel der aufgekratzten Geschwister beschützen muss.

Der stille Moment

Der Moment, der für Sabine Erdmann endgültig alles Schwere leicht werden lässt, ist dann die kurze Stille, um 16 Uhr. Wenn die Kinder, nachdem sie gerufen hat, im Wohnzimmer stehen und auf die Geschenke gucken. Das ist der Moment, in dem die Realität in der Plattenbauwohnung wohl am wenigsten hinter den Bildern von der seligen Weihnacht zurückbleibt; in dem der ganze Stress für Sabine Erdmann in einer wunderbar angenehmen Zufriedenheit aufgeht. „Die großen Augen, dit jeht ma runter wie Öl.“

Lange hält die Besinnlichkeit nicht an. Die Erdmanns sind zu viele Leute auf zu engem Raum. Die Kinder würden sich dann doch gleich auf die Geschenke stürzen, meint Sabine Erdmann und wirft mit der Hand jedes Nachdenken beiseite. So, als sei ihr das im allgemeinen Taumel, nach der Anstrengung und dem Gewühle um ein gelungenes Familienerlebnis ziemlich egal. Den Kindern sei ja auch nicht so wichtig, dass viele Geschenke unter dem Weihnachtsbaum nicht mehr neu sind, schon von anderen benutzt wurden, nicht mehr in der Originalverpackung stecken. Der Erdmann-Nachwuchs hat sich damit abgefunden, dass für alles andere das Geld nicht reicht, auch für Geschenke unter den Geschwistern nicht. „Dit kenn wa nich anders, da wächst man so rin“, erklärt der 15-jährige Max. Seine Mutter fasst die Genügsamkeit der Familie in einem Satz zusammen, von dem sie selber sagt, dass er kitschig klingt: „Unsere Kinder freuen sich noch über eine Tafel Schokolade.“

Die weiteren Feiertage werden bei Familie Erdmann dann ähnlich verlaufen wie die Wochenenden in der Adventszeit, jene langen Nachmittage, an denen Wolfgang Petrys „Jingle Bells“ immer wieder aus dem CD-Player dröhnt. Der siebenjährige Paul hat gerade eine Plastikspritze mit Hundefutter gefüllt und seine kleine Schwester damit gepiekt, die Schwester hat gepetzt, die Mutter schimpft. Paul muss sich in die Ecke auf den Wohnzimmerteppich setzen und über die Tat nachdenken. Sabine Erdmann zündet ein Teelicht an und teilt noch mal Kaffee aus. Die Wellensittiche machen schmatzende Geräusche. Es ist zwanzig nach drei an einem Samstag vor Weihnachten. Im schmalen Badezimmer läuft zum dritten Mal die Waschmaschine.