Neue Regierung, alte Probleme

Das Kabinett Karsai hat mit der Arbeit begonnen. Ihr Erfolg hängt vom guten Willen der Warlords und dem Einsatz der internationalen Gemeinschaft ab

von DOMINIC JOHNSON

Hamid Karsai war zufrieden: Die Stimmung am ersten Arbeitstag sei „exzellent“ gewesen, berichtete der neue afghanische Regierungschef. Einen Tag nach der feierlichen Einsetzung seiner Übergangsregierung berief Karsai gestern in der Hauptstadt Kabul sein Kabinett ein, um über die kommenden Aufgaben zu reden: Sicherheit und Wiederaufbau.

Am Samstag hatten sich 2.000 Besucher im Gebäude des afghanischen Innenministeriums zur größten Feier Afghanistans seit Jahren versammelt: Karsais Amtseinführung. Unter einem großen Bild des am 9. September ermordeten Anti-Taliban-Guerillaführers Ahmed Schah Massud leistete Karsai den Amtseid und sagte: „Reichen wir uns die Hände“. Dann wurden seine 29 Minister eingeschworen, darunter zwei Frauen.

„Ich würde euch gerne versprechen, dass ich meine Mission erfüllen werde, Afghanistan Frieden zu bringen“, sagte Karsai. Gefangene Talibanführer sollten vor Gericht, sagte er später; eine Kommission zur Aufarbeitung von Kriegsverbrechen sei „keine schlechte Idee“. Der neue Premier bleibt zunächst sechs Monate im Amt. Dann wird nach den Petersberger Vereinbarungen vom 5. Dezember eine „Loya Jirga“ einberufen, die über eine neue, breiter angelegte Übergangsregierung beraten soll. Die Vorbereitung dieser „Loya Jirga“ wird Karsais Hauptaufgabe sein. Ein Komitee dazu soll innerhalb eines Monats gebildet werden.

Die für die Bevölkerung unmittelbar dringendere Aufgabe des Wiederaufbaus und der humanitären Hilfe mitten im Winter, der jetzt Kabul Temperaturen von bis zu minus 20 Grad beschert, überlässt Karsai derweil der internationalen Gemeinschaft und der UNO, die auch die Gehälter der neuen Regierung zahlt. „Wir brauchen Milliarden von Dollar, um die Schwierigkeiten in allen Bereichen der Wirtschaft und Infrastruktur zu überwinden“, sagte er. „Die Wiederbelebung der Industrie, der Landwirtschaft, der Schulen und Krankenhäuser – es gibt wirklich kein Feld, auf dem Afghanistan keine Hilfe braucht.“

Britische Marines bewachten die Regierungsgebäude und patrouillierten neben Kämpfern der afghanischen Nordallianz in Kabul. Es waren die ersten Einheiten der UN-mandatierten Schutztruppe, die in den nächsten Wochen stationiert werden soll. Deren endgültige Struktur wird am 27. und 28. Dezember in London auf einer Konferenz der Truppenentsender festgelegt. Darunter ist auch Deutschland, dessen erstes Erkundungskommando im Anschluss an diese Konferenz nach Afghanistan aufbrechen soll.

Die internationalen Truppen werden auf Kabul und Umgebung beschränkt bleiben. Ob die Macht der Regierung darüber hinausgeht, muss sich erst noch erweisen. Zumindest waren alle wichtigen Führer des Landes zu Karsais Amtseinführung angereist – auch solche, die ihn zunächst abgelehnt hatten, wie Raschid Dostum aus der nördlichen Stadt Masar-i Scharif und Ismail Khan aus dem nordwestlichen Herat.

Der bisherige afghanische Präsident Burhanuddin Rabbani versprach Karsai, für ihn zu beten. Alle Beteiligten wissen, dass Karsais Regierung ein riskantes Experiment ist – das dritte dieser Art nach den Genfer Abkommen von 1988, die das Ende der sowjetischen Besatzung Afghanistans einläuteten, und den Friedensabkommen von 1993 zwischen den rivalisierenden Mudschaheddin-Führern in Kabul. Die waren beide gescheitert.

Auf die Frage, was diesmal anders sei, sagte Ahmed Farsai, Sprecher des UN-Beauftragten Lakhdar Brahimi: „Die Antwort ist, dass es nie soviel Aufmerksamkeit und Verpflichtungen gegeben hat. Milliarden von Dollar warten.“ Neu sei auch die Anwesenheit ausländischer Truppen. Über eine veränderte Haltung der afghanischen Führer wusste Farsai nichts zu berichten.

Hilfsorganisationen warnen daher, von einem stabilen Umfeld für langfristige Wiederaufbaumaßnahmen könne noch keine Rede sein, und auch die Bedingungen für Nothilfe seien jetzt nicht besser als vorher. „Der Zusammenbruch der Taliban brachte nicht den sicheren humanitären Raum, der erhofft war; er ersetzte ein Sicherheitsproblem oft mit einem anderen“, schrieb letzte Woche der entwicklungspolitische Ausschuss des britischen Parlaments in einem Afghanistan-Bericht. „Banditentum und Rechtlosigkeit traten an die Stelle militärischen Konflikts“.

UN-Organisationen klagen, die anhaltende Unsicherheit hindere Hunderte in Nachbarländern wartende Mitarbeiter von Hilfsorganisationen daran, in ihre designierten Einsatzgebiete in verschiedenen Teilen Afghanistans zu reisen. Mindestens sechs Millionen der 22 Millionen Einwohner Afghanistans sind nach UN-Angaben auf Nachrungsmittelhilfe angewiesen. Eine Million davon sind im Winter völlig von der Außenwelt abgeschnitten.

Der pakistanische Sicherheitsexperte Babur Schah sagte in einem Interview voraus, die neue Regierung müsse „sehr leise treten, gegenüber anderen zuvorkommend sein und jede größere Partei einbeziehen, die sich ausgeschlossen fühlt“. Über klassische Befriedungsmaßnahmen wie Demobilisierungsprogramme für Milizen wird nach Meinung von Experten in Afghanistan noch viel zu wenig nachgedacht. Stattdessen wird betont, die Sicherheit sei Sache der Afghanen. So werde „jeder Chef mit einer Gruppe bewaffneter Männer ein Warlord“, warnte Schah. „Warlordismus ist ein Geschäft geworden, und dafür wird Instabilität gebraucht, und daher wollen Warlords Instabilität im Land und nicht Stabilität.“

In Kabul war das Ergebnis am Wochenende zu sehen. Ismail Khan brachte aus Herat seine eigene Armee mit – eine Wachtruppe aus 30 bewaffneten Männern. Auch einige Kabinettsmitglieder reisten mit Privatmilizen in die Hauptstadt. Auf einer Pressekonferenz nach seiner Amtseinführung am Samstag sagte Karsai: „Die Bedeutung dieses Tages wird davon abhängen, was in der Zukunft passiert. Wenn wir unsere Versprechungen gegenüber dem afghanischen Volk erfüllen, wird dies ein großer Tag sein. Wenn wir sie nicht erfüllen, wird man ihn vergessen.“