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: HELMUT HÖGE über Weihnachtsansprachen

Eine für alle

Der Bundespräsident hält jedes Jahr zu Weihnachten eine Ansprache, der Kanzler zu Silvester. Sie haben ganze Stäbe für ihre Reden, dennoch war noch nie eine Ansprache bemerkenswert. Bis auf jene von Helmut Kohl, als die Videocassette beim Sender verlegt wurde, woraufhin man dort die vom letzten Sylvester noch einmal ausstrahlte. Die Verantwortlichen sprachen hinterher von einer peinlichen „Verwechslung“. Aber noch peinlicher war, dass niemand es gemerkt hatte. Ein Vergleich ergab dann, dass Kohl tatsächlich in beiden nahezu dasselbe gesagt hatte.

Der Bundespräsident, Johannes Rau, hat sich nun etwas einfallen lassen: Er hat kurz vor Weihnachten seine gesammelten „Reden und Interviews“ – mehrbändig – herausgegeben – und an alle verschenkt. Jetzt liegen sie überall in den Redaktionen, auf Schreibtischen, in Kreativzonen und Raucherecken herum. Und so mancher schaut da auch mal rein. Johannes Rau hat vielen was mitzuteilen. Den ewigen Rauchereckenstehern etwa gibt er zu bedenken: „Wir sind in Gefahr, uns zu Tode zu plaudern“. Auch den „Verfolgten und Gegnern des Kommunismus“ vergißt er nicht, seine „guten Wünsche“ zu schicken. Und der Super-Illu verrät er, „es ist jeden Tag wieder aufregend“ (in der ungeteilten neuen Hauptstadt zu präsidieren).

Besonders gerne landet er anscheinend mit seinem Präsidentenhubschrauber irgendwo in den fünf neuen Ländern, wo er dann an Ort und Stelle eine Rede hält – zum Beispiel in der Görlitzer Waggonbaufabrik, die nunmehr dem Konzern Bombardier gehört, der das Werk abwickeln will. Anfang des Jahres 2001 war das aber noch nicht bekannt – im Gegenteil! „Weil hier ein ausländischer Investor bedeutendes Engagement zeigt“ – deswegen nahm Rau diesen Termin sogar besonders gerne wahr.

Dennoch fragte er sich schon einige wenige Monate später – in einer nachdenklichen so genannten „Berliner Rede 2001“: „Wird alles gut?“ Um gleich darauf vor der „Alfred-Herrhausen-Gesellschaft“ zu präzisieren: „Jedem Hoch folgt ein Tief, und manchmal hält solch ein Tief lange an. Dann gedeiht wenig. Die Sonne der politischen Aufmerksamkeit versteckt sich hinter den Wolken der Finanzzwänge . . .“

Anlässlich der „Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden“ zitierte er Hermann Hesse: „Wenn man weiß, auf welcher Seite man steht, lebt man freier und ruhiger“ – um sodann überraschenderweise noch einmal daran zu erinnern „Wer kriegsblind geworden ist, hat in furchtbarer Weise Gewalt erlitten“. Auf die Gewalt kam der Bundespräsident noch so manches andere Mal zu sprechen – zum Beispiel am „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“. Hier forderte er: „Jeder und jede muß sich auf unseren Straßen und Plätzen, in U-Bahn und Bus sicher fühlen können.“

Deshalb widmet sich Rau auch dem Bundesgrenzschutz. Anlässlich eines Festakts „zum 50-jährigen Bestehen der Behörde führte er aus, dass der BGS inzwischen „einen festen Platz“ in unserer Gesellschaft habe und zum „inneren Frieden“ beitrage, aber „all das ist nicht vom Himmel gefallen“, die BGS-„Frauen und Männer“ hätten sich dies „erarbeitet“, auch er „persönlich“ greife deswegen immer wieder gerne auf sie (als Piloten beispielsweise) zurück. Den „Deutschen Schützenbund“ beruhigte er jedoch anschließend – bei einem Empfang zu dessen 50-jährigem Bestehen: „Hier im Schloss Bellevue wird eher selten von der Schußwaffe Gebrauch gemacht.“

In der Süddeutschen Zeitung kam Bundespräsident Rau dann noch einmal ausführlich auf die „Gewalt und ihre Ursachen“ zurück, um sie nämlich zu „bekämpfen“. Rau führte dazu aus: „Gerade bei jugendlichen Tätern muß die Strafe rasch auf die Tat folgen.“ Bei der Eröffnung der Ausstellung „Spirit of the Age“ in der Londoner Tate-Galerie empfahl er allerdings ziemlich emphatisch: „Wir müssen vor allem die jungen Menschen gewinnen.“

Es ist hier nicht der Platz, um alle aufzuzählen, die Johannes Rau mit seinen gesammelten Reden und Interviews darüberhinaus noch gewinnen will. So viel sei jedoch verraten: Es ist die Mehrheit.