flucht am eurotunnel
: Inszenierung der Verzweiflung

Zu Fuß gibt es keinen Weg nach Großbritannien. Der Tunnel unter dem Ärmelkanal ist mit so raffiniertem Sicherheitsgerät ausgestattet, dass selbst die Mauer der untergegangenen DDR anachronistisch aussehen würde. Bewegungs- und Wärmemelder, Flutlicht, Videoberwachung sowie britische und französische Polizisten und Soldaten an beiden Tunnelenden: Unkontrollierte Reisen auf die Insel sind unmöglich.

Kommentarvon DOROTHEA HAHN

Diese Sicherheitseinrichtungen hat einst Margaret Thatcher verlangt. Ihr Argument, sie wolle „kontinentaleuropäische Viehkrankheiten auf der Insel verhindern“, nimmt sich angesichts von Rinderwahn und Maul- und Klauenseuche wie ein schlechter Witz aus. Tatsächlich war die aufwändige Sicherheitsausstattung immer als Bollwerk gegen ungewollte Einwanderer gedacht.

Dass Großbritannien für Fußgänger unerreichbar ist, wissen auch die Flüchtlinge. Sie haben nur zwei Möglichkeiten: auf einen LKW zu springen, der mit einem Zug durch den Eurotunnel rollt, oder sich auf einer Fähre im benachbarten Calais zu verstecken. Beides ist gefährlich. Beides ist – wegen der steigenden Schlepperpreise – teuer. Und beides misslingt – wegen der raffinierten Kontrollen – fast ausnahmslos.

Wenn dennoch immer wieder große Flüchtlingsgruppen in den Tunnel stürmen, dann stecken dahinter andere Motive. Bei den Flüchtlingen ist es die Verzweiflung der Auswegslosigkeit. Die Schlepper wiederum, die die orts- und sprachunkundigen Flüchtlinge fast vollständig kontrollieren können, nutzen die „Massenflucht“ als Ablenkungsmanöver. Während Sicherheitskräfte, Politiker und Medien gebannt auf die Menschenjagd am Tunneleingang starren, können auf anderen Wegen einige wenige Flüchtlinge gut versteckt nach Großbritannien gelangen. Für die Aktiengesellschaft „Eurotunnel“ schließlich ist jede medienwirksame „Massenflucht“ ein weiteres Argument, um am Tunnel aufzurüsten – und zu verlangen, dass das benachbarte Flüchtlingslager von Sangatte geschlossen wird. Die britische Regierung und manche französischen Parteien unterstützen sie dabei.

Doch das Lager zu schließen wäre fatal. Es ist das letzte Stück Humanität, das den Flüchtlingen geblieben ist. Selbst wenn das Lager aufgelöst wäre, würde dies keinen einzigen Menschen im Irak oder in Afghanistan von einem Fluchtversuch nach Großbritannien abhalten. Denn es ist ein „promised land“, wenn auch nur vermeintlich.