Last Exit Sauna

Weihnachten bei den Eltern, essen, lesen, spazieren gehen. Im Thermalbad der Heimatstadt im warmen Wasser liegen und in den nachtblauen Himmel starren. Nichts tun, denken oder reden. Doch dieses Jahr kommt alles anders

Weihnachten – anders als gedacht, lande ich dieses Jahr also doch im elterlichen Haushalt. Daraus ergibt sich ein schlichtes Programm: essen und lesen. Ab und zu gehe ich spazieren und wundere mich, wie anders sich das Spazierengehen in dieser reizarmen Umgebung anfühlt. Danach ist man zwar durchgelüftet, aber auch erlebnishungrig. Und weil es nichts zu tun gibt, entsteht eine Art Unterdruck. Gegen den hilft es auch nicht mehr, sich von den Büchern absorbieren zu lassen. Ein körperliches Gegenprogramm ist gefragt. Diesbezüglich bietet die schwäbische Heimatstadt entgegen der sonstigen Langeweile ein echtes Highlight. Man kann für wenig Geld thermalbaden und luxussaunieren, im warmen Wasser liegen und in den nachtblauen Himmel starren – die Stadt kann sich’s leisten.

Diesmal aber kommt alles anders. Ich treffe zwei Jungs von früher. Beide habe ich seit zwölfeinhalb Jahren nicht gesehen. Den, den ich mal richtig gut kannte, erkenne ich nicht sofort. Den anderen eigentlich auch nicht – der ist nur zwischen all den Rentnern und feisten Pärchen ein solcher Lichtblick, dass ich zweimal hingucken muss. Als ich M. das letzte Mal gesehen habe, war er weit davon entfernt, gut auszusehen. Da hatte er sich mit Hilfe von legalen und illegalen Präparaten aufgeschäumte Muskeln antrainiert und sah vom Kopf-Körper-Verhältnis her aus wie eine Ameise. Eigentlich ein guter und kluger Typ, damals aber komisch unterwegs. Ich habe in den letzten Jahren nicht mehr an ihn gedacht, aber wenn ich’s getan hätte, hätte ich ihn mir als einen der Typen vorgestellt, die gerade im Daum-Prozess aussagen.

Mit A. hatte ich mehr gemein. Als wir beide 17 waren, teilten wir unser Haschisch und den Freund R. Ob wir uns R. wirklich bis ins Letzte geteilt haben, weiß ich bis heute nicht. Später, mit 19, kurz bevor wir uns aus den Augen verloren, erzählte mir A., dass R. jetzt im Knast sitzt. Angeblich weil die Jungs, mit denen er gekifft hat – und die er wahrscheinlich genauso begehrenswert fand wie seinerzeit A. – immer jünger geworden waren. Am Schluss saßen Fünftklässler bei ihm rum. In dem Alter erzählt man ja seinen Eltern noch gern, was man tagsüber so gemacht hat, und das ist R. dann wohl auch zum Verhängnis geworden.

Als R. aus unserem Gesichtfeld verschwunden war, blieb uns immer noch das gemeinsame Kiffen. Unsere Zukunft stellten wir uns damals so vor, dass wir zusammen in einer fiesen Wohnung in einem asbestverseuchten Hochhaus in einem Vorort von Köln oder Frankfurt wohnen, und unser Leben möglichst ambitionsfrei gestalten. Geld verdienen wollten wir an der Kasse beim Aldi in der Ladenpassage unseres Wohnkomplexes, so dass wir unsere triste Existenz nicht durch Fahrten in die Innenstadt würden durchbrechen müssen.

Ein bisschen so ist es für ihn gekommen, findet A., als wir in der Sauna ins Plaudern kommen. Er arbeitet jetzt als Schichtführer in einem Callcenter, nennt sich gescheitert und lacht dabei. Über seinen beruflichen Status quo redet er in offensichtlich schon vorformulierten und vielfach ausprobierten Phrasen, eloquent und distanziert, in professioneller Soziologenlingo. Über Privates sagt er gar nichts. Er hat immer noch dieselben nervösen Ticks – zum Beispiel, dass er dauernd an seinen Zähnen rumfummelt, wie um zu gucken, ob sie gleich rausfallen. Es wäre naheliegender gewesen, ihn an seiner Körpersprache zu erkennen als an seinem relativ unverändertem Gesicht. Na ja, das merke ich mir fürs nächste Mal.

A. ist Kettenraucher und Vieltrinker und wohnt gerade übergangsweise bei seinen Eltern in einer Art Garage. Nicht, weil im Haus kein Platz ist, sondern weil er es zu komisch findet, wieder bei den Eltern zu wohnen. In dieser Garage wird er mit M. Weihnachten verbringen.

M. wohnt in Frankfurt, hat einen Programmiererjob bei t-online, päppelt sich ab und zu bei seiner Oma in Portugal auf und ist verheiratet. Das ist wohl aber auch anstrengend, zwischen Dusche und Tauchbecken philosophiert er über Machtverhältnisse in Beziehungen und sagt Sachen wie: „Oh Mann, selbst wenn man mit Nachdenken überhaupt nichts am Hut hat, wird man mit der Zeit einfach zwangsläufig zum Philosophen.“ Auf jeden Fall hat er mit seinen Eltern gebrochen, und auf Weihnachten mit seiner Frau hat er wohl auch keine Lust. Also sitzt er Weihnachten mit A. in einer Garage, einen Steinwurf vom Haus seiner Eltern entfernt: „A. und ich haben eben einen Draht zueinander.“

Dann trennen sich unsere Saunawege. A. schwächelt in der Hitze, schiebt’s auf den Alkohol und möchte sich oben ins warme Wasser legen und in den nachtblauen Himmel starren. Und ich bin seltsam getröstet von dem Gedanken, dass in einer nahen Garage während der zähen Feiertage diese zwei Jungs sitzen werden: Ein guter Ort, an den ich mich mit meinen Unterdruckgefühl begeben kann, wenn die Sauna geschlossen ist.

STEPHANIE GRIMM