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: Der Florentiner Calcio als Vorgriff auf die Moderne

VIP-Tribünen und Sponsoren

„Der gezähmte Fußball“, „Kein Mann, kein Schuss, kein Tor“ oder „Wie das Spiel verloren ging“ – unter solchen Titeln erschien im vergangenen Jahrzehnt gleich ein ganzes Regal von Büchern, in denen die Entwicklung des Fußballsports zum durch und durch kommerzialisierten Unterhaltungsprodukt beklagt wurde. In letzter Konsequenz historisch verankert war diese Verfallsgeschichte des Spiels in seiner angelsächsischen Urform: dem anarchischen Volksfußball, den im Mittelalter ganze Dörfer gegeneinander spielten und dessen Geschichte – Zeichen eines vermeintlich subversiven Potenzials – in erster Linie durch Repressionsmaßnahmen der englischen Obrigkeit dokumentiert ist. Das erste Fußballverbot des Bürgermeisters von London aus dem Jahr 1314 ließ sich so gesehen mit den modernen Entfremdungsentwicklungen Versitzplatzung oder Fernsehvermarktung in eine Reihe stellen.

Horst Bredekamp, Professor an der Berliner Humboldt-Universität, ruft eine ganz andere Entwicklungslinie des Fußballs ins Gedächtnis. Sein Buch „Florentiner Fußball. Die Renaissance der Spiele“, zuerst 1993 erschienen und nun in einer erweiterten Fassung erneut auf dem Markt, erzählt die Geschichte des vergleichsweise glamourösen italienischen Calcio. Zwar geht auch der auf eine volkstümliche, republikanische Vorform zurück, doch bereits ab dem frühen 16. Jahrhundert installierten die adeligen Herrscher aus dem Hause Medici das Rugby-ähnliche Spektakel mit 27 Spielern pro Mannschaft als Repräsentationsplattform mit Volksfestcharakter. Anstatt das überaus populäre Schauspiel zu verbieten, transformierten die Medici es zu einem prachtvollen „Staatscalcio“, bei dem das Rahmenprogramm das sportliche Ereignis an Wichtigkeit duchaus übertreffen konnte. Der Calcio war schon damals, was dem Fußball heute so häufig vorgeworfen wird: Inszenierung.

Der Florentiner Calcio wurde bevorzugt zu Hochzeiten, Geburtstagen und Staatsbesuchen veranstaltet. Tausende begeisterter Zuschauer schauten dabei jungen Adeligen zu, deren Ballspiel sowohl der Leibesertüchtigung als auch der Tugendbildung diente – die gleiche Ideologie, nach der Football im 19. Jahrhundert an den elitären englischen Public Schools eingeführt werden sollte. Auch in anderen Punkten mutet der frühneuzeitliche Calcio überraschend modern an. Schon für das streng reglementierte Eingangszeremoniell, das Einlaufen der beiden Teams, konstatiert Bredekamp „jene Mischung von Theater und Sportereignis, das sich als Wesenszug des Calcio erweisen wird“. Der Autor berichtet von VIP-Tribünen für den Adel und Ausschreitungen auf den billigen Plätzen, er erwähnt Sponsoren und Spielertransfers. Und zur Blütezeit des Florentiner Calcio, Ende des 17. Jahrhunderts, hätten die Berichterstatter dem luxuriösen Trikot-Design häufig mehr Zeilen gewidmet als dem Spiel selbst.

Der Kunstgeschichtler Bredekamp stützt sich bei seiner Studie auf zahlreiche zeitgenössische Abbildungen und Quellen. Er analysiert Radierungen, aus denen die taktische Aufstellung der Teams oder die soziologische Staffelung des Publikums hervorgeht, er sinniert über die ikonografische Bedeutung der Bälle im Wappen der Medici und zitiert aus Sonetten, die den Calcio als die wirklichere Wirklichkeit preisen. Manche Formulierung mag etwas akademisch geraten sein („Ungeachtet seiner paramilitärischen Assoziationsmöglichkeiten wird der Calcio aus dem Bereich der bloßen Körperertüchtigung sowie der geistigen Vorbereitung auf soldatische Anforderungen nun auf ein Feld überführt, das die Grenzaufhebung von Theater und Wirklichkeit zu thematisieren sucht.“), doch das macht Bredekamp durch spürbare Begeisterung für seinen Untersuchungsgegenstand jederzeit wett.

Der Autor erörtert auch, warum der Calcio im Gegensatz zu anderen Ritualen der Florentiner Oberschicht – Ballett, Turnier, Prozession – immer volksnah geblieben ist und bis heute alljährlich aufgeführt wird. Im Florentiner Calcio, schreibt er, „blieb der Zwist zwischen der populären Herkunft und der höfischen Indienstnahme lebendig“. Ersetzt man, übertragen auf die Gegenwart, die Position des Adels durch das Fernsehen respektive die dahinter stehenden Kapitalinteressen, ist hier vielleicht auch die Analyse formuliert, warum selbst die Kritiker des heutigen Fußballbetriebes immer wieder ins Stadion gehen. MALTE OBERSCHELP

Horst Bredekamp: „Florentiner Fußball. Die Renaissance der Spiele“. Wagenbach Verlag, 238 Seiten, € 13,19