Land of confusion

Belgien wird gern als multikulturelles Modell für Europa gehandelt. Jetzt hat es sechs Monate den EU-Ratspräsidenten gestellt. Fazit: Brüssel sollte kein Vorbild für Brüssel sein

Nicht Belgien sollte Vorbild der EU werden – umgekehrt: Laeken sollte Reformen in Belgien anstoßen

Der belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt hat großes Verhandlungsgeschick bewiesen, als er den Gipfel von Laeken vorbereitete. Unter dem Motto „Fragen wird ja noch erlaubt sein“ reiste er mit einem ganzen Katalog durch die Hauptstädte der EU: Wie können die europäischen Institutionen demokratischer und transparenter werden? Sollten die nationalen Parlamente eingebunden werden – und wenn ja, wie? Wie könnten die Grundzüge einer europäischen Verfassung aussehen?

Mit dieser Taktik beruhigte Verhofstadt besorgte Amtskollegen, die mit einer EU-Verfassung und den Vereinigten Staaten von Europa wenig im Sinn haben. Gleichzeitig erreichte er, dass der in Laeken eingesetzte Konvent einen breiten Diskussions- und Arbeitsauftrag erhält. Jetzt können die Mitglieder jedes Thema debattieren, das ihnen wichtig erscheint. In Rekordzeit und ohne das Papier durch kleinliches Gezänk zu verpfuschen, einigten sich alle Regierungen auf eine Deklaration, die dem ursprünglichen belgischen Vorschlag sehr nahe kommt. Den sechs Monaten belgischer Ratspräsidentschaft kann also das Prädikat „Ende gut“ verliehen werden. Folgt daraus aber auch ein „Alles gut“, wenn man das Halbjahr insgesamt betrachtet?

Die belgische Präsidentschaftsperiode verdient besonderes Interesse, weil Belgien oft als Modell für die Gesamt-EU angeführt wird. Nirgendwo anders als in Brüssel, so eine Lieblingsthese der Leitartikler, könne der Sitz der europäischen Institutionen sein. Nur dort ließe sich lernen, wie ein fein austariertes System die Macht zwischen Bund, Regionen und Sprachgemeinschaften verteile, ohne dass sich die Beteiligten dieser arrangierten Heirat den sorgfältig formulierten Ehevertrag um die Ohren schlagen.

Der Erfolg von Laeken scheint denen Recht zu geben, die die „belgische Methode“ für tauglich halten, um die Alltagsgeschäfte der EU zu bewältigen. Sicher kam die komplizierte Brüsseler Kabinettsroutine, wo bei jedem Gesetzentwurf unzählige Interessenkonflikte, alte Feindschaften und Ad-hoc-Bündnisse beachtet werden müssen, Verhofstadt bei seinem Job als Ratspräsident zugute. Nur: Um ein Haar hätte er den Posten gar nicht antreten können, weil im Juni fast die Regierung über die Frage geplatzt wäre, wie der Finanzausgleich im Bildungsbudget zwischen Flandern und der Wallonie künftig geregelt wird. Die reichen Flamen wollen nämlich nicht länger dafür zahlen, dass es den armen wallonischen Schülern nicht ins Klassenzimmer regnet.

Der regionale Egoismus der Flamen steht dem Bayerns gegenüber dem Saarland in nichts nach – oder dem Futterneid, den Spanier und Irländer nun empfinden, wenn sie ihre lieb gewonnenen Strukturfördermittel in die weitaus ärmeren neuen Mitgliedsländer im Osten fließen sehen. Auch die von allen Belgiern mit großer Vorfreude und gemeinsam empfundenem Nationalstolz erwartete EU-Präsidentschaft hinderte die Sprachgemeinschaften nicht daran, ihre regionalen Eitelkeiten und Empfindlichkeiten auf der EU-Bühne auszutragen. Gelegentlich nahm das so absurde Züge an, dass auch ein routinierter Mediator wie Verhofstadt dadurch ausgebremst wurde.

Als Mitte September die verblüfften Umwelt- und Verkehrsminister der EU-Staaten am ersten Abend eines zweitägigen Arbeitstreffens mit dem Zug von Löwen nach Louvain-La-Neuve transportiert wurden, suchten sie lange vergeblich nach dem Grund für diese eigenwillige Tagungsregie. Des Rätsels Lösung ließ bei den meisten Beobachtern Zweifel darüber aufkommen, ob der belgische „Ehevertrag“ als Modell für die EU wirklich so gut geeignet ist.

Eine alte Auseinandersetzung sollte keine neue Nahrung bekommen: 1968 hatten nämlich die flämischen Studenten ihre wallonischen Kommilitonen und alle Flamen, die freiwillig auf Französisch studierten, aus der ehrwürdigen Universität Löwen verjagt. Die Bibliotheksbände mit geraden Registriernummern warfen sie ihnen hinterher, die ungeraden behielten sie für sich. 1971 legte König Baudoin nur wenige Kilometer entfernt in der Wallonie den Grundstein zur neuen frankophonen Uni Louvain-La-Neuve. Um den wilden Streit im neuen Millennium nicht erneut anzufachen, mussten die Verkehrsminister eben in beiden Unis tagen – ein Wanderzirkus, der daran erinnert, dass auch die EU-Politiker aus Proporzgründen ständig umziehen müssen.

Die Minister halten ihre Herbsttreffen nicht im Brüsseler Ratsgebäude, sondern in Luxemburg ab; und die Europaabgeordneten treffen sich eine Woche im Monat im Parlament in Straßburg. Die Methode strapaziert Nerven und Ressourcen und beschleunigt nicht gerade das Arbeitstempo. Auch der Sprachenstreit, der auf EU-Ebene immer wieder dazu führt, dass Länder Ratstagungen boykottieren, weil ihre Muttersprache nicht gedolmetscht wird, findet im kleinen Belgien seine absurde Entsprechung. Als bei Putins Besuch Anfang Oktober in Brüssel die Tontechnik streikte und die Worte des russischen Präsidenten auf verständnislose Ohren stießen, gab Verhofstadt den Zuhörern den Rest: Völlig ungerührt vom Anblick der wütend an ihren Kopfhörern rüttelnden Menschen formulierte er streng nach Proporz halb französisch, halb niederländisch – obwohl er fließend englisch spricht.

Überflüssig zu erwähnen, dass die ohnehin komplizierte Ratsregie im belgischen Semester um einige Feinheiten erweitert wurde. Auch sonst wird die Arbeit durch die Tatsache, dass der Vorsitz jedes EU-Fachministerrats alle sechs Monate wechselt, nicht erleichtert. Trotzdem packte Belgien sein hausgemachtes Rotationssystem noch drauf: So wurde der Ministerpräsident der Region Brüssel, eigentlich Bürgermeister einer Großgemeinde, für sechs Monate zum Vorsitzenden des EU-Forschungsrates befördert – obwohl Gesamtbelgien auch einen Forschungsminister hat, der aber nicht zum Zuge kam. Den Fischereirat wiederum leitete Annemie Neyts-Uyttebrock, die für ganz Belgien für die Landwirtschaft zuständig ist. Belgien selbst aber wurde im gleichen Rat von Vera Dua vertreten, die nur in Flandern die Ministerin für Landwirtschaft und Umwelt ist.

Der regionale Egoismus der Flamen steht dem der Bayern gegenüber dem Saarland in nichts nach

Wem das alles zu verwirrend ist, der sollte noch einen Blick in die Laekener Erklärung werfen. Sollte die Rolle des Rates gestärkt werden? Sollte er, wenigstens in seiner Funktion als Gesetzgeber, öffentlich tagen? Was wird mit der derzeit alle sechs Monate rotierenden Ratspräsidentschaft? Was mit den unterschiedlichen Fachministerräten? Diese Fragen, so die Absicht der belgischen Präsidentschaft, sollen am Ende zu einer Reform führen, die die EU näher an den Bürger heranbringt und die Entscheidungsprozesse verständlicher macht.

Es würde nicht schaden, wenn die Erklärung von Laeken auch in Belgien eine Reformdiskussion anstoßen würde. Ein ketzerischer Gedanke. Seine Ausführung würde schon daran scheitern, dass man sich auf eine Sprache einigen müsste, in der diese Diskussion landesweit geführt werden könnte.

DANIELA WEINGÄRTNER