: Wie geht Vergessen
Über Lücken, Exfreunde und die „Göttliche Komödie“
von JUDITH LUIG
Jeden Tag muss man sich oft erinnern: ans Zähneputzen, daran, dass man verheiratet ist oder wie man eine PDF-Datei öffnet. Wir trainieren unser Gedächtnis darauf, Fakten und Zusammenhänge zu merken. Aber wie sieht es umgekehrt aus – mit dem Vergessen?
Vergessen ist Verdrängen, Verleugnen, Verlieren, also immer negativ besetzt. Wäre es nicht großartig, etwas bewusst und besten Gewissens zu vergessen?
Die Wissenschaft unterstützt uns bei dieser Idee vehement: „Wir werden handlungsunfähig, wenn wir zu viele unnötige Informationen speichern“, sagt der Hirnforscher Martin Korte vom Münchner Max-Planck-Institut für Neurobiologie. Seine Lösung: „Cleverere Strategien entwickeln, um das zu vergessen, was wir nicht brauchen.“
Allerdings ist das gar nicht so einfach. „Man vergisst nicht, wenn man vergessen will“, stellte Friedrich Nietzsche fest. Das liegt an der Art, wie wir Fakten und Ereignisse wahrnehmen. Wenn eine Information im zentralen Nervensystem gespeichert wird, dann wird die Spur des Reiz- oder Erlebniseindrucks, ein so genanntes Engramm, hinterlassen. Dieses Engramm macht es möglich, das Erlebnis zu einem späteren Zeitpunkt aufzurufen. Bei der Speicherung verstärken sich die Verbindungsstellen zwischen den Nervenzellen. Und so kommen wir wieder drauf, wie der schmierige Ex hieß oder wer die „Göttliche Komödie“ verfasste.
Eine Erklärung für das Vergessen wäre, dass die Verbindungen geschwächt werden, man also die Information schlechter wiederfindet. Hat man etwas nach eigener Einschätzung völlig vergessen, so fehlt einem eigentlich oft nur der Weg zur Erinnerung.
Doch selbst wenn wir die Erinnerung wach halten, also diesen Weg möglichst oft gehen, konservieren wir die Informationen damit nicht. Im Gegenteil. Erinnerung ist ein aktiver, ein kreativer Vorgang. Jedesmal, wenn wir ein Ereignis wieder abrufen, erklärt Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt am Main, in seinem Vortrag „Wahrnehmung, Erinnern, Vergessen“, werden bereits befestigte Gedächtnisspuren wieder labil.
Wiederholtes Erinnern verändert also die gespeicherten Informationen. Wer wieder und wieder an den täppischen Ex denkt, der vergisst dessen Namen zwar nicht so leicht, verschlimmert aber vielleicht die Erinnerung durch die gedankliche Beschäftigung.
Beruhigend, dass diese Art des Andenkens eher die Ausnahme ist. „In achtzig Prozent der Fälle verschönt man die Erinnerung“, sagt Hirnforscher Korte. So wie Menschen ihre eigene Erinnerung verändern können, so können auch andere Menschen das Gedächtnis manipulieren. Beispielsweise indem man vermeintliche Zeugen für ein Ereignis aufruft, die einer Testperson einen erfundenen Vorgang einreden. Durch sozialen Druck beginnen Menschen, sich solche fiktiven Geschehnisse auf einmal sogar mit Details auszuschmücken und in dieser überarbeiteten Variante zu merken.
Solche Manipulation kann beim aktiven Vergessen hilfreich sein. Denn neuere Forschung besagt, dass die Verbindungen auch bewusst geschwächt werden können. Beispielsweise bei der Behandlung von Phobien: Hat jemand Angst in großen Räumen, weil er damit ein negatives Erlebnis verbindet, so kann man diese Erinnerung durch ein positives Erlebnis in einem großen Raum überblenden.
Leider ist dieses Verfahren nicht auf die Erinnerungen an besagten Ex übertragbar. Durch Reden allein kann man emotional besetzte Engramme nicht überschreiben. Stattdessen muss man die Situation wieder herbeiführen, reinszenieren. Geht das nicht, sollte man an die Operette „Fledermaus“ denken: „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.“
Der Neurobiologie Korte erklärt: „Kaut man das gleiche Problem wieder und wieder durch, dann festigt man es erst richtig.“ Testbefragungen von Unfallopfern haben ergeben, dass die Betroffenen, die nicht mit Psychologen über den Unfall gesprochen haben, weniger von Alpträumen und schrecklichen Erinnerungen verfolgt wurden.
Vergessen lässt friedlicher weiterleben. Ähnlich verhält es sich mit Situationen, die einem nicht aus dem Kopf gehen. Generell speichern wir nur Bruchstücke von Ereignissen ab. Menschen haben aber das Bedürfnis, Ursachen und Gründe für ihre Handlungen zu finden. Wie der Hirnforscher Singer darlegt, füllen wir, wenn wir an etwas erinnert werden, vorhandene Lücken in unserem Gedächtnis durch selbst erfundene Konstruktionen. Wir denken uns Motivationen aus, um Vorgänge zu rechtfertigen. Somit basteln wir falsche Ereignisse. Die Gefahr ist groß, dass wir aus einer fiktiven Erinnerung heraus gekränkt über ein Verhalten sind.
Empfiehlt sich da nicht geradezu der Mut zur Lücke? Anstatt dauernd dazulernen zu wollen, könnte man sich zur Abwechslung ja einmal an all den Dingen freuen, die wir nicht vergessen. Zum Beispiel Auto fahren: Wenn wir morgens in den Wagen steigen, müssen wir erst mal wissen, wo der Autoschlüssel liegt, ja wissen, was ein Autoschlüssel ist und wie er auszusehen hat. Hier müssen wir nicht nachdenken, viele Vorgänge sind Routine. Unser Gedächtnis nimmt uns Arbeit ab. Martin Korte kann diese Erkenntnis anhand des Beispiels „Sprechen“ wissenschaftlich untermauern. „Für die motorische Koordination von Sprache – die wir ja lernen mussten – werden bis zu hundert Muskeln koordiniert, bei einer Geschwindigkeit von bis zwanzig Lauten pro Sekunde oder 180 Wörtern pro Minute.“
Was man tun kann, um Lethe, dem mythologischen Fluss des Vergessens, näher zu kommen, ist, in die Speicherung einzugreifen. Man kann der nackten Information eine emotionale Komponente hinzufügen. „Zum Beispiel, sich bei einem Vortrag überlegen, ob man den Redner mag oder nicht“, erklärt Martin Korte. Außerdem kann man seine Erinnerungsspuren auch bewusst legen. „Nach jedem Ereignis fragen: Was war jetzt eigentlich wichtig?“
Wir merken uns Sachen leichter, wenn wir sie mit vielen Spuren versehen, mit Eindrücken, Bildern, Gerüchen. Also sollte man sich auf den Kontext, in dem etwas gesagt wird oder etwas geschieht, konzentrieren und – mitspeichern. Durch die Achtsamkeit auf das Wesentliche wird der unnötige Kleinkram erst gar nicht verlinkt. Wie es in einem Drama von Jean Anouilh heißt: „Würden sich die Menschen um das Vergessen nur halb so viel bemühen, wie um das Erinnern, dann wäre die Welt längst ein friedliches Paradies.“
JUDITH LUIG gewinnt immer beim Memory und erinnert sich nicht mehr an ihr Alter
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