Silvester Short Cuts. Weltweit.
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Zum Jahreswechsel unterwegs? In Madrid, Rom, San Salvador? Hier einige ultimative Insidertipps unserer Auslandskorrespondenten zu Traditionen, Festen vor Ort und den angesagtesten Plätzen in der jeweiligen Stadt oder Region. Momentaufnahmen zum Jahreswechsel 2002.

BRÜSSEL: WO COMIC-EUROS NACHTS TANZEN

Belgier sind Familienmenschen und Feinschmecker. Deshalb verbringen sie den Silvesterabend am liebsten im Kreise ihrer Nächsten an einer reich gedeckten Tafel. Aber nicht dieses Jahr. Dieses Jahr kommt der Euro. Im Jubelpark, einer großzügigen Grünanlage zwischen EU-Kommission und Bürohochhäusern der Eurokratie, wird Punkt halb zwölf eine Licht- und Tonschau der Superklasse beginnen, Eintritt frei. Feuerjongleure, Tänzer und Jazz-Saxophonisten machen sich zu einer Reise durch Europa auf. Die Symbole auf den neuen Banknoten – Türen und Fenster als Zeichen der Offenheit, Brücken als Einladung, näher zusammenzurücken – stehen im Zentrum der Lichteffekte, die man sich für den Anlass ausgedacht hat. Am Ende – das darf im Comic-begeisterten Belgien nicht fehlen – tritt Mister Euro selber auf die Bühne. Die lächelnde gelbe Comicfigur, die den belgischen Finanzminister Didier Reynders im Halbjahr seiner EU-Präsidentschaft bei manchem offiziellen Termin begleitet hat, wird das gigantische Feuerwerk bewundern, das Schlag zwölf die neue europäische Einheitswährung hochleben lässt. DANIELA WEINGÄRTNER

SÃO PAULO: GO-GO-GIRLS UND SAMBA AUF DER AVENIDA

In einer lauen Silvesternacht gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten für traditionsbewusste Paulistanas: Entweder sie bevölkern einen der vielen Strände des Bundesstaates. Oder sie ziehen zu Hunderttausenden zum Réveillon-Volksfest auf der ersten Adresse der Megametropole, der Avenida Paulista. Auf der ehemaligen Prachtstraße, die schon lange zum größten Geschäfts- und Finanzzentrum Südamerikas mutiert ist, schwingt das Paulistaner Vielvölkergemisch vor einer riesigen Bühne das Tanzbein. Bis in den frühen Morgen spielen populäre Bands mit ihren unvermeidlichen Go-Go-Girls die Samba-Variante Pagode oder Axé-Musik aus Bahia. Moderne Bankgebäude und Büroblocks mit TV-, Radio- oder Telefonantennen bilden die imposante Kulisse. Damit im neuen Jahr die guten Geister leichteres Spiel haben, kleidet man sich auf der Paulista wie auch im übrigen Brasilien am besten ganz in Weiß. Kurz unterbrochen wird das bunte Treiben vom obligatorischen Mitternachtsfeuerwerk. Und wem das alles zu viel Gedränge ist, der verfolgt die Silvesterfete an der Mattscheibe. Feliz ano novo! GERHARD DILGER

MADRID: KOLLEKTIVES TRAUBENSCHLUCKEN

An Silvester hält den Madrilenen nichts zu Hause. Hunderttausende von Menschen treffen sich nach dem üppigen Abendessen an der Puerta de Sol. Der Platz, von dem alle Nationalstraßen Spaniens ausgehen, bietet die ideale Kulisse für den Rutsch ins neue Jahr. Hier, auf dem Turm des Gebäudes, das einst der Post gehörte und heute die Regionalregierung der Comunidad de Madrid aufnimmt, schlägt die Uhr, die in allen Fernseh- und Radiosendern das neue Jahr einläutet. Das wichtigste Ritual gilt zwölf Trauben. Zu jedem Schlag der Uhr wird eine verschlungen. Das soll Glück bringen. Uhrmacher Jesús López Terradas manipuliert eigens dafür jedes Jahr kurz vor Mitternacht das altehrwürdige Räderwerk der bekanntesten Uhr Spaniens. Die Schläge werden so verlangsamt. 36 Sekunden vom ersten bis zum letzten, das sollte ausreichen, damit jeder die Trauben in aller Ruhe aufessen kann. Dennoch Vorsicht beim Schlucken: So mancher hat die Feier mit einem heftigen Hustenanfall bezahlt. Und einige Pechvögel sind gar an den vielen Kernen und Häutchen erstickt. Einmal ausgeprustet, wird dann je nach Geldbeutel mit Sekt oder Sidra nachgespült. Und dann ab in die Innenstadt. REINER WANDLER

TOKIO: PILGERN ZUM BUDDHATEMPEL

Silvester in Japan ist mit Heiligabend in Mitteleuropa zu vergleichen. Die meisten Leute verbringen den Abend erst im Kreise der Familie und pilgern darauf in einen nahen buddhistischen Tempel. Für die Tokioter bleibt der Sensoji im alten Bezirk Asakusa der beliebteste Ort. Die riesige Tempelanlage hinter dem ältesten Geisha-Quartier Tokios ist über unzählige enge Gässchen erreichbar. Die Menschen versammeln sich ab zehn Uhr im Vorhof, wo sie sich mit dem Rauch aus dem großen Räucherfass rituell reinigen. Buddhistische Mönche rezitieren Sutren, die die Leiden des vergangenen Jahres vergessen lassen und Glück für das kommende Jahr bringen sollen. 300.000 Menschen hören andächtig zu. Jugendliche plaudern oder trinken Bier, das sie in kleinen Säcken mitgebracht haben. Viele Frauen kommen im traditionellen Kimono und stöckeln auf hohen japanischen Getas. Sandelholzgeruch erfüllt die Luft und die Lampione des Tempels verbreiten orangefarbenes Licht. Um Viertel vor zwölf beginnen die Mönche mit den 108 Gongschlägen. Damit werden nach buddhistischer Auffassung die 108 teuflischen Gedanken im Menschen vertrieben. Das Reinigungsritual endet um Mitternacht mit dem letzten Gong. ANDRÉ KUNZ

ROM: FLIEGENDE UNTER- TASSEN UND FREILUFTPARTY

Traditionell war es eigentlich immer gesünder, Silvester in Rom innerhalb der eigenen vier Wände zu begehen. Erstens nämlich gibt es zum Jahresende als Glücksverheißung zukünftigen Reichtums einen Teller Linsen – und die schmecken nun mal auch in Italien zu Haus am besten. Und zweitens will es das unselige Brauchtum, dass in der Silvesternacht reichlich Scherben auf die Straße fliegen, als unschwer zu entschlüsselnde symbolische Befreiung vom Schrott des vergangenen Jahres. Die Gefahr, von einer fliegenden Untertasse getroffen zu werden, ist aber gottlob mittlerweile recht gering – mit dem Ergebnis, dass Rom Silvester heute in einer immensen Freiluftparty feiert. Der ganze historische Stadtkern verwandelt sich kurz vor Mitternacht zum Fetentreff. Die letzten Jahre wurde das Gedränge zum logistischen Problem: Rund um die Piazza del Popolo – dort gab es Open-Air-Musik – drängten sich etwa eine Million Menschen. Nur dem ortsüblich niedrigen Alkoholkonsum war es wohl zu verdanken, dass es in dem panikträchtigen Geschiebe und Gequetsche keine ernsthaft Verletzte gab. Selbst das Entrinnen wurde zum Problem. Mancher, der aus der City zum Kneipenviertel Testaccio wollte, verbrachte die Neujahrsnacht im Stau: Zwei Stunden Hinfahrt, Freunde verpasst, zwei Stunden Rückfahrt, ab ins Bett. Deshalb zog die Stadtspitze dieses Jahr die Notbremse. Die Konzerte der populären italienischen Popgrößen finden diesmal weit draußen an der Peripherie Roms statt. Alex Britti, Paola Turci und Giorgia trällern nun an der Laurentina, am Largo Spartaco und am Ponte Mammolo. In der Innenstadt werden nun nur noch die Freunde der Klassik bedient; nebst Feuerwerk gibt es die Ode an die Freude und ein paar Rossini-Stückchen. MICHAEL BRAUN

ISTANBUL: HOFFEN AUF DAS GROSSE LOS

Wer in Istanbul etwas auf sich hält, feiert den Beginn des neuen Jahres in einer Bar in Beyoglu, entlang der Istiklal Caddese im Herzen von Pera oder in einem Restaurant am Bosporus. Der Taksim-Platz, Zentrum des modernen Istanbuls auf der europäischen Seite der Stadt, ist der Treffpunkt der Kids. Es gibt ein Feuerwerk und jede Menge Gleichgesinnter, die, mit einer Sekt- oder Weinflasche in der Hand, bereits ab dem frühen Abend den Taksim-Platz bevölkern. Der allergrößte Teil der Istanbuler aber wird den Silvesterabend im Kreise der Familie vor dem Fernseher verbringen. Die Wirtschaftskrise hat in diesem Jahr so viele Opfer gefordert, dass Feierstimmung so recht nicht aufkommen will. Der eigentliche Renner sind die speziellen „Yilbase-Lose“. Die staatliche Lotterie bietet zum Neuen Jahr besonders große Gewinne, und selbst die Trostpreise sind Grund genug, dem neuen Jahr etwas gelassener entgegenzublicken. JÜRGEN GOTTSCHLICH

SAN SALVADOR: SCHWARZPULVERMASSAKER

El Salvador ist eines der gewalttätigsten Länder Lateinamerikas. So gut wie nichts geht ohne Tote und Verletzte. Das gilt auch für Silvester. Eine Statistik darüber existiert nicht. Sie wäre auch schwierig aufzustellen, denn die ersten Silvestertoten gibt es schon im September und Oktober. Um diese Zeit beginnt in improvisierten Werkstätten in den Armenvierteln die Produktion von Knallkörpern. Kinder füllen große Mengen von Schwarzpulver in pfundschwere Rollen aus Altpapier. Der Alte überwacht sie und raucht. In Gedanken versunken wirft er die Kippe weg – und schon ist es passiert. Die Wellblechhütte fliegt in die Luft, die Kinder liegen tot am Boden. Solche Nachrichten stehen fast wöchentlich in der Zeitung. Trotz solcher Produktionsausfälle kommt eine unglaubliche Menge von Krachern jeder beliebigen Größe auf den Markt. Die wird zwischen 23.45 Uhr Silvester und 0.15 Uhr Neujahr gemeinsam zur Explosion gebracht. Die Luft in San Salvador ist dann so vom Pulverdampf geschwängert, dass die wenigen Leuchtraketen im Dunst kaum zu sehen sind. Das Atmen wird schwer. Sonst aber ist nichts los in dieser Nacht. Die Zeit vor dem großen Knallen verbringen die Salvadorianer im trauten Kreis ihrer Familie, die Zeit danach im ebenso trauten der engsten Freunde. Die meisten Kneipen sind ohnehin hermetisch verrammelt. Aus Angst vor hereinfliegenden brandgefährlichen Krachern. TONI KEPPELER

NAIROBI:

IN DIE IDYLLE DER SAVANNEN

Die Straßen sind verlassen in der Silvesternacht. Die meisten Kneipen und Restaurants sind geschlossen. Nairobianer lassen ihre Stadt im Stich zum Jahreswechsel. Die Menschen gehen „nach Hause“. Zu Hause ist immer der Ort, von wo die Familie stammt. Die Maasai kehren in winzige Dörfer zurück mitten in der Savanne. Kikuyu besuchen den kleinen Bauernhof auf den grünen Hügeln, wo die Eltern leben. Die Mitglieder des Luo-Stammes gehen zu den Fischerdörfern am Victoriasee. Einwohner von Nairobi tauschen den relativen Luxus von Elektrizität und fließendem Wasser gegen Öllampen und Brunnen. Busse, Züge und Autos sind an Silvester überfüllt mit Menschen und Geschenken. Zurück in die Heimat heißt auch zurück in die Vergangenheit. Wenn die Uhr Punkt zwölf anzeigt, wird ein Glas selbst gebrautes Bier getrunken und ein neues Stück Ziegenfleisch vom Feuer geholt. Im Hintergrund bringt das Radio religiöse Gebete oder traditionelle Musik. Statt farbigem Feuerwerk leuchtet der Himmel. Lange dauert die Feier nicht. Um eins suchen sich die Menschen einen Schlafplatz im Haus oder der Hütte. Manchmal schlafen vier Erwachsene in einem Doppelbett oder auf einer dünnen Matte auf dem Boden. Und weil Vögel, Hühner, Ziegen und Kühe nicht wissen, dass die Stadtbewohner ausschlafen wollen, heißt es am nächsten Tag wieder früh aufstehen.