Ein Erbe aus 5.340 Tonnen Papier

Das Studium von Stasi-akten ist heute Staatsbürgerkunde der einprägsamsten ArtTschechien, Polen und neuerdings Rumänien wollen Geheimarchive nach deutschem Vorbild öffnen

von WOLFGANG GAST

Sie sind die stummen Zeugen eines untergegangenen Geheimdienstes und dokumentieren vier Jahrzehnte einer nahezu lückenlos überwachten Welt. Sie berichten von der eigenen Macht und der Ohnmacht der anderen. Einigen bescheinigen sie menschliche Würde, anderen Niedertracht. Als „operative Vorgänge“, als „Feindobjektakten“ oder als „operative Personenkontrolle“ belegen die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit, wie konsequent der Staatssicherheitsdienst der DDR gegen jede Opposition im eigenen Land vorging – und wie erfolgreich er in der alten Bundesrepublik Politik und Behörden unterwandert hatte. Seit zehn Jahren sind diese Unterlagen jetzt zugänglich. Am 29. Dezember 1991 trat das Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft, vier Tage später durften die ersten der Stasiopfer in ihre Akten einsehen.

Berlin, Palast der Republik, am 13. November 1989, die Wende war bereits im Gang. „Ich liebe doch alle, alle Menschen“ – diese Worte stammelte der einst gefürchtete Geheimdienstchef Erich Mielke in seiner ersten und letzten freien Rede vor der Volkskammer. Der Satz wurde zum Synonym für die Implosion des real existierenden Sozialismus. Wie die Liebe wirklich ausgesehen hatte, lässt sich seit der Öffnung der Stasi-Unterlagen nachlesen – in den Spitzelberichten Tausender „Inoffizieller Mitarbeiter“ und in „Zersetzungs-“ und „Maßnahmeplänen“. Ob jemand zum Wehrdienst eingezogen wurde oder Kombinatsdirektor werden wollte, einen Gewerbeschein beantragte oder sich an der Universität einschreiben wollte – stets saß die Stasi im Hintergrund.

Der Öffnung der Stasiakten ging eine heftige Kontroverse voraus. Nicht wenige, darunter der letzte DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel, forderten, die illegal angehäuften Erkenntnisse umgehend zu vernichten. Die Akten sollten verbrannt werden oder unter einem riesigen Betondeckel verschwinden. Die Befürworter einer Aktenvernichtung befürchteten eine „Lynchstimmung“ gegen die früheren Stasi-Mitarbeiter; mit der Offenlegung der Papiere werde das gesellschaftliche Klima nach der Überwindung der SED-Diktatur dauerhaft vergiftet. Selbst Mord und Totschlag wollten sie für den Fall der Veröffentlichung nicht auszuschließen.

Die anderen, zumeist Mitglieder der Bürgerbewegung, stritten für den freien Zugang. Ihr Argument: Das in 35 Jahren angesammelte Herrschaftswissen im SED-Staat müsse an die Bevölkerung zurückgegeben werden. Wer die Akten vernichte, behindere nicht nur den notwendigen gesellschaftlichen Heilungsprozess, er vernichte auch die Chance auf eine geschichtliche und kulturelle Aufarbeitung der SED-Herrschaft. Begleitet wurde die Debatte durch immer neue Meldungen, die aus dem Schattenreich des früheren Machtinstrumentes drangen. Noch vor der Öffnung der Stasiarchive gab es Meldungen über die jahrzehntelangen millionenschweren Ost-West-Geschäfte des obersten DDR-Devisenbeschaffers und Offiziers im besonderen Einsatz, Alexander Schalck-Golodkowsi. Mit der RAF-Stasi-Connection flog weiter auf, dass der Staatssicherheitsdienst Mitte der Achtzigerjahre zehn kampfesmüden Mitgliedern der terroristischen Roten Armee Fraktion ein Asyl in der DDR gewährt hatte.

Und immer wieder stolperten Prominente über ihre frühere Spitzeltätigkeit für die Stasi: Ibrahim Böhme etwa, Gründungsmitglied und Hoffnungsträger der Ost-SPD, oder Wolfgang Schnur, der als Anwalt führende Dissidenten gegen den DDR-Staat vertreten hatte. Auch CDU-Ministerpräsident Lothar de Maiziere zog sich aus der Politik zurück, nachdem eine Karteikarte der Stasi ihn als den Zuträger mit dem Decknamen „Czerny“ auswies.

Insgesamt 178 Kilometer Akten hat der Geheimdienst nach seiner Auflösung hinterlassen. Jeder laufende Meter fasst bis zu 70 Vorgänge, umgerechnet an die 10.000 Blatt Papier mit einem Gewicht von rund 30 Kilogramm. Der gesamte Aktenberg bringt etwa 5.340 Tonnen auf die Waage. Hundert Kilometer der Papiere sind heute wie vor Wendezeiten in einem fensterlosen Neubau in der ehemaligen Berliner Stasizentrale an der Normannenstraße gelagert. Die monströsen Ausmaße der MfS-Überwachung schlugen sich sogar in der Architektur der Stasigebäude nieder. Wände und Böden des neunstöckigen Zentralarchivs mussten aus besonders dickem Beton gefertigt werden, damit es den Belastungen durch die gewaltigen Papiermassen überhaupt standhalten konnte. Die Kapazitäten waren auf Zuwachs ausgelegt.

Hat sich der ganze Aufwand gelohnt? Mit rund 2.600 Mitarbeitern beschäftigt Marianne Birthler, die Nachfolgerin des ersten Bundesbeauftragten Joachim Gauck, heute noch deutlich mehr Personal als beispielsweise das Bundesinnenministerium, das die Dienstaufsicht über die Aktenbehörde wahrnimmt. Die Gesamtausgaben der Behörde liegen bei jährlich rund 200 Millionen Mark. Eine Summe, beinahe so groß wie der Betrag, den der Staat für das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz aufbringt.

Statistisch ist die Öffnung der Stasiakten ein Erfolg. Fünf Millionen Anträge auf Akteneinsicht sind seit 1992 gestellt worden, fast zwei Millionen davon stammten von Privatleuten. Wissenschaftler und Journalisten reichten fast 16.000 Rechercheaufträge ein. Noch heute beantragen im Monat durchschnittlich 10.000 Privatpersonen Einsicht in ihre Unterlagen.

Das Stasi-Unterlagen-Gesetz hat sich inzwischen auch als Exportschlager erwiesen. Tschechien, Polen und neuerdings auch Rumänien wollen die Geheimdienstarchive nach deutschem Vorbild öffnen. Zehn Jahre nach der Verabschiedung wird das Gesetz aber auch zum wiederholten Male auf den Prüfstand gestellt. Anlass ist der seit Monaten schwelende Streit um die Stasiakten über den früheren Kanzler Helmut Kohl. Erfolgreich klagte Kohl vor dem Berliner Verwaltungsgericht gegen die Herausgabe der Papiere an Forscher und Journalisten. Das Urteil stellt die langjährige Praxis der Behörde in Frage, Prominentenakten zu Forschungszwecken offen zu legen, solange sie nicht deren Privatleben betreffen. Mitte des Jahres soll das Bundesverwaltungsgericht in der Causa Kohl entscheiden. Und was, wenn sich die Gegner der Offenlegung der Unterlagen durchgesetzt hätten?

Ein Beispiel: Johannes Weinrich, die rechte Hand des mittlerweile in Frankreich inhaftierten Top-Terroristen Carlos, wäre nicht im November dieses Jahres wegen seiner Beteiligung am Sprengstoffanschlag auf das Maison de France in Berlin 1984 verurteilt worden. Jahrelang traten die Ermittler auf der Stelle, erst die Auswertung der Stasiakten machte Anklage und Prozess möglich. Befürworter einer Aktenöffnung mussten sich allerdings bald der Bürokratie beugen. Bürgerbewegte, Kirchen und Stasiauflöser hatten stets darauf beharrt, dass jede Stasiverstrickung nur im konkreten Einzelfall bewertet werden könne. Die individuellen Umstände sollten in Rechnung gestellt werden, wenn eine Person etwa zur Zusammenarbeit mit den Schnüfflern erpresst worden war. Die Hoffnung war aber auch, dass sich über diese Diskussionen zivilgesellschaftliche Normen entwickeln und der postkommunistischen Gesellschaft ein demokratisches Korsett angelegt werden könnte.

Stattdessen wurden im Bereich des öffentlichen Dienstes Fragebögen eingeführt, in denen Stellenbewerber eine mögliche Stasitätigkeit anzukreuzen hatten. Einem falsch gesetzten Kreuz folgt regelmäßig die Entlassung – nicht wegen der früheren Arbeit für die Stasi, sondern wegen falscher Angaben bei der Anstellung. Die öffentliche Hand verkehrte so die Intentionen, die mit der Öffnung der Archive verbunden waren.

Zehn Jahre nach der Öffnung der Stasiakten darf aber schon die Normalität, in der die Aktenbehörde ihren Auftrag erfüllt, als Bestätigung des beispiellosen Experimentes gelten. Die prognostizierte Lynchstimmung ist ausgeblieben, und Anfeindungen gegen die Behörde als Produzentin gesellschaftlichen Unfriedens unterbleiben inzwischen weitgehend. Die schlagzeilenträchtige Enttarnung Prominenter ist längst durch die unspektakuläre Akteneinsicht Tausender ehemaliger Untertanen abgelöst. Einmal gewährt, ist das Recht, den von staatlicher Willkür verzerrten Teil der individuellen Biografie kennen zu lernen, nicht rückholbar. Warum auch? Was in den Lesesälen der ehemaligen Stasizentrale stattfindet, ist Staatsbürgerkunde der einprägsamsten Art. Die gesellschaftliche Resistenz gegen autoritäre und nostalgische Verlockung lässt sich sicherer als in der Konfrontation mit den Akten wohl kaum fördern.

Dennoch: Die Öffnung der Akten, die die Bürgerbewegung der DDR gegen den politischen Ost-West-Konsens durchsetzte, ist keine durchgängige Erfolgsgeschichte. Der Einfluss der Bürgerrechtler reichte gerade noch, der Gesellschaft den schnellen Schlussstrich zu verwehren und mit dem Erhalt der Akten die Möglichkeit der Aufarbeitung offen zu halten.

Dieser Zumutung haben sich die ehemaligen DDR-Bürger in ihrer Mehrheit entzogen. Die emphatisch vorgetragene Forderung nach Aufarbeitung der Vergangenheit traf auf weit verbreiteten Unwillen. Und scheiterte an vagen Initiativen, die die Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht zu institutionalisieren vermochten: Nie konnten die Oppositionellen von einst der gesellschaftlichen Mehrheit plausibel machen, warum der Blick in eine miese Vergangenheit zukunftsträchtiger sein sollte als deren Verdrängung.