Kein Anschluss in dieser Zelle

Eng waren sie, aber gemütlich, ein Stück Technikgeschichte und Stationen der eigenen Biografie. Doch keiner hat um sie gekämpft. Im neuen Jahr werden alle Telefonzellen zerschreddert und durch graue Säulen ersetzt sein. Und dann? Ein Nachruf

von UWE RADA

Wenn es Winter wurde, war er da. Etwas zusammengekauert saß er auf der Fußablage in seiner Zelle und hielt die Flasche Rotwein in den Händen, als wäre ihm immer noch nicht warm genug. Dabei war es in seiner Zelle wärmer als draußen. Zweieinhalb mal einhalb mal einhalb Meter, da wärmt man sich fast von selbst, vor allem mit der Pulle in der Hand. Wer einmal die Kulturgeschichte der Telefonzelle schreiben will, dachte ich mir, muss in die Prenzlauer Allee kommen, vor allem im Winter.

Doch das war im vergangenen Jahr. In diesem Winter gibt es in der Prenzlauer Allee keine postgelben Telefonzellen mehr, nur noch schlanke Säulen, so genannte Basistelefone in Ron-Sommer-Grau und Magentarosa. Was für die einen der Verlust von 6.300 knapp anderthalb Kubikmeter großen Berliner Stammzellen ist, nennt sich bei der Telekom Verschlankung, nicht nur im Ästhetischen. 15.000 Mark kostete eine Telefonzelle zuzüglich 750 Mark monatliche Festkosten. Eine Säule dagegen bekommt man für 500 Mark. Und das alles ohne Wartung. Marktwirtschaft und Telefonzelle, das verträgt sich eben nicht.

Da spielt es auch keine Rolle, dass die Berliner Telefonzelle im neuen Jahr ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert hätte. Kleine achteckige Paläste waren das damals, die man am 15. April 1912 aufgestellt hatte, aus Holz und Stahl – und natürlich einer Sitzgelegenheit. „In der hektisch werdenden Großstadt“, schreibt Telefonzellenchronist Ingo Bach, „wollte man nicht erst nach Hause rennen, um sich ein Fuhrwerk zu bestellen – und trotzdem legten die Berliner Wert auf Stil.“

Die erste Standardzelle schließlich wurde 1928 in Betrieb genommen, auf dem damaligen Reichskanzlerplatz, dem heutigen Theodor-Heuss-Platz. Nun ging es nicht mehr um Stil, sondern um Massenkommunikation. Und die erforderte auch ein neues Design.

Doch auch in Zeiten der Moderne waren die Telefonzellen mehr als nur Wunderwerke der Technikgeschichte, sie waren auch Stationen der eigenen Biografie. Wer hat nicht von seinen Eltern einen Telefongroschen mitbekommen, auf den Weg zur Schule oder zur Bäckerei?

Wo hätte man diskreter mit der ersten Liebschaft telefonieren können? Zu Hause etwa, vor den Riesenohren der Erziehungsberechtigten? Dann schon lieber den Aschenbechergeschmack auf der Sprechmuschel in Kauf nehmen oder die zertrampelten Bierbüchsen auf dem Zellenboden.

Und waren die Zellen, später dann, nicht auch ein Stück vereintes Europa, auch wenn man in Frankreich, Italien und Polen mit Münzen und Karten telefonieren konnte? Aber immerhin, man konnte noch telefonieren, und zwar miteinander und nicht, wie in Amerika, im Beisein eines virtuellen Operators.

Was diese Stationen miteinander verband, war der Wunsch nach Privatheit, nach einem Gespräch unter vier Ohren, nach einem Stück Heimat an zwei Orten, nur verbunden durch zwei Hörer und ein paar Kabel. Doch dann kam das Handy und mit ihm die erste Liebe im Short-Message-Takt.

Nun ist wieder Winter, der endgültig letzte Winter der Telefonzelle. Neulich habe ich noch zwei gesehen, eine Ron-Sommer-graue und magentarosane in der Martin-Luther-Straße und eine postgelbe am Wartburgplatz. In der Prenzlauer Allee dagegen schützt einen keine Zelle mehr vor fremden Ohren und vor Kälte. Im Westen sind die Beharrungskräfte manchmal größer als im Osten, wo die neue Zeit schon begonnen hat, ehe die alte am Ende ist.

Und er? Wo hat es ihn in diesem Winter hin verschlagen? Zum Helmholtzplatz, wo sie alle trinken, ganz ungeniert und öffentlich? Oder wollte er doch lieber für sich sein, in einer andern Zelle, ein bisschen allein feiern, man ist so sonst genug unter Menschen?

Oder steht er ganz wehmütig auf einem Haufen gelben und Ron-Sommer-grauen und magentarosanem Schrott, irgendwo auf einer Deponie am Stadtrand? „Alles zerschreddert“, nimmt einem der Telekompressesprecher selbst diese Hoffnung. Es gibt sie nicht, die Telefonzellenfriedhöfe, auf denen man wenigstens öffentlich trauern könnte. Unerbittlich schreitet sie voran, die Ron-Sommer-Zeit, so unerbittlich wie der Winter.

Neulich, ich hatte den Gedanken an die Kulturgeschichte der Telefonzelle schon vergessen, sah ich ihn wieder. Nicht mehr zusammengekauert saß er da, sondern ganz gelöst und locker, die Weinflasche nicht in den Händen, sondern neben ihm auf einer gekachelten Ablage.

Er saß im Vorraum der nahe gelegenen Postfiliale, keine hundert Meter von seiner alten Zelle in der Prenzlauer Allee entfernt. Nur dass er diesmal keine öffentlichen Münzfernsprecher bewachte, sondern den Geldautomaten der Postbank. Noch während ich überlegte, ob das seine Form der Rache am Privatisierungswahn der neuen Zeit war, klingelte sein Handy.