Vor der Schule in die Schule

Damit sie ab der ersten Klasse mithalten können, schickte Nordrhein-Westfalen 16.000 Zuwandererkinder vor Schulbeginn zum Deutschlernen. Das Land stellte sich dem Sprachproblem, bevor es konservative Politiker für sich reklamieren konnten

aus Dortmund NADIA LEIHS

Lara sitzt zusammen mit elf anderen Mädchen und Jungen vor einem braunen Koffer in der Dortmunder Vincke-Grundschule. Nacheinander ziehen die Kinder Kleidungsstücke aus dem Koffer. „Das ist ein Hemd“ – Lara schaut unsicher zu ihrer Lehrerin. Als die nickt, zieht ein strahlendes Lächeln von den Pausbacken zu Laras Kulleraugen.

Offiziell gehen die Kinder noch gar nicht zur Schule. Erst in einem halben Jahr kommen sie in die erste Klasse. Lara und ihre Mitstreiter lernen Deutsch, bevor sie eingeschult werden. Erstmals förderte die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Gaby Behler (SPD) in diesem Jahr Kinder von Zuwanderern in Sprachkursen. 16.000 Fünf- und Sechsjährige haben so schon ein halbes Jahr vor Schulbeginn Deutsch gelernt. Das Land reagierte auf immer lautere Klagen über die ständig abnehmende Sprachkompetenz der Zuwandererkinder. Die Aufsehen erregende Schulstudie Pisa hat die Notwendigkeit einer speziellen Förderung dieser Kinder öffentlich gemacht.

Deutsch für die Freunde

Die Kinder malen, singen, spielen, basteln und gehen spazieren. Vokabeln, den richtigen Satzbau und ein bisschen Grammatik lernen sie gewissermaßen nebenbei. Lara interessiert sich nicht wegen der Schule für den Deutschunterricht. „Ich muss Deutsch lernen, weil ich auch deutsche Freunde habe“, sagt das Mädchen. Ihre Eltern stammen aus der Türkei. Die Mutter könne nur Türkisch, erzählt Lara, und der Vater unterhalte sich nur manchmal mit ihr auf Deutsch.

Ähnliches beobachten Bildungsexperten häufig: Kinder von Zuwanderern beherrschen oft weder Deutsch noch ihre Muttersprache – selbst wenn sie bereits in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben. Die Eltern können nur radebrechen, manche Kinder ziehen erst einige Monate vor Schulbeginn aus ihrem Heimatland nach. Für sie ist es fast unmöglich, die Unterrichtssprache Deutsch zu lernen, bevor die Schule beginnt. Die Ergebnisse der mangelhaften Förderung sind drastisch: 20 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben keinen Schulabschluss.

Viele Lehrer klagen, dass sich gerade Familien aus arabischen Ländern und der Türkei weigerten, ihren Nachwuchs in Kindergärten zu schicken. Dort könnten sie sich zumindest rudimentäre Kenntnisse der Sprache aneignen. Für ein Kind wie Lara ist es leicht, in den Jahren vor der Schule ohne ein Wort Deutsch auszukommen. Sie lebt in der Dortmunder Nordstadt, dem Stadtteil mit dem höchsten Ausländeranteil. Der Großteil der Zuwanderer stammt aus der Türkei. Man kennt sich, die Kinder spielen miteinander. Deutsch ist zur Verständigung nicht nötig.

Doch dieses Bild ändert sich dramatisch, wenn Lara in die Schule kommt. Laras Lehrerin Sabine Weber hat die Fortschritte ihrer Erstklässler im Sprachkurs beobachtet. Sie ist sehr zufrieden. Die Kinder, so berichtet sie, beherrschen jetzt wenigstens grundlegende Vokabeln und Redewendungen. „Wenn ich jetzt sage, wir heften das in die rote Mappe, dann wissen die Kinder, was Rot ist.“ Die meisten Kinder scheuen sich nicht mehr, Deutsch zu sprechen.

Der Sprachkurs hat aber noch einen anderen Effekt. Er stärkt das Selbstbewusstsein der Kinder. Sie haben einen kleinen Vorteil gegenüber ihren deutschsprachigen Mitschülern – weil sie sich in ihrer Grundschule bereits auskennen, wenn die anderen noch verlegen ihre Schultüte in Händen halten.

Lara hat mit dem Sprachkurs nur die erste Hürde genommen. Ob ihre Schullaufbahn weiter erfolgreich verläuft, hängt davon ab, ob Nordrhein-Westfalen und die anderen Bundesländer die Förderung der Zuwandererfamilien wirklich ausbauen.

Ulrike Kropp etwa, die Schulleiterin der Vincke-Grundschule, klagt darüber, dass es den Schulen an Personal und Geld für unterrichtsbegleitende Sprachförderung und Hausaufgabenbetreuung fehle. Die Eltern können da kaum helfen: Aufgrund ihrer eigenen schlechten Deutschkenntnisse vermögen sie die Kinder weder bei Schulaufgaben noch bei den Vorbereitungen auf Prüfungen zu unterstützen. Deshalb wünschen sich viele Pädagogen zusätzliche Sprachkurse für all jene Mütter, die von den vorhandenen Angeboten der Volkshochschulen oft nicht erreicht werden.

Die mangelhafte Förderung der Zuwandererkinder während ihrer gesamten Schullaufbahn beeinflusst ihr ganzes Leben. Mehr als 70 Prozent der ausländischen Jugendlichen schaffen gerade mal einen Hauptschulabschluss. Der ist meist keine gute Voraussetzung sozialer Absicherung und beruflichen Aufstiegs. Ohne weitere Unterstützung droht auch Lara deshalb das gesellschaftliche und wirtschaftliche Aus.