Wie alles immer anders kam

DAS SCHLAGLOCH von VIOLA ROGGENKAMP

Meinem Vater, sagte Barbara, könnte ich einen Hund schenken. Dann vermisst er mich Weihnachten nicht so

„Ja, Mutti, ich bin’s. Ich komm jetzt gleich. Brauchst du noch was?“ (Mann mit Handy)

Als ich das hörte, diesen Satz, hinter mir im Zugabteil kurz nach Weihnachten, fielen mir Barbara und Hildegard ein. Erinnern Sie sich noch an meine beiden lesbischen Freundinnen, die im vergangenen Sommer geheiratet haben? Hildegard zum ersten Mal im Kleid, tief dekolletiert, nicht wahr, jetzt erinnern Sie sich an die beiden. Vorgestern rief Hildegard mich an, um mir von Weihnachten zu berichten. Nun will ja kein Mensch mehr nach Weihnachten etwas über Weihnachten hören, doch werden einem zuweilen die schönsten Weihnachtsgeschichten erst nach dem Christfest erzählt.

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, sagte Hildegard.

Das gibt mir Zeit, Ihnen rasch die Vorgeschichte anzuvertrauen: Jedes Jahr zu Weihnachten trennen sich ganz viele Frauenpaare in Deutschland. So machten es bislang auch Hildegard und Barbara. Hildegard fuhr zu ihrer Mutter, Barbara fuhr zu ihrem Vater. Am Heiligen Abend stand Hildegard in schwarzer Hose, weißem Oberhemd und schwarzer Weste neben ihrer verwitweten Mutter vorm Weihnachtsbaum und schwang das Glöckchen, worauf aus dem Nebenzimmer ihre beiden verheirateten Schwestern samt deren Männern und Kindern feierlich eintraten. Fünfhundert Kilometer entfernt von Hildegard schlüpfte Barbara bei ihrem verwitweten Vater in die Rolle der Mutter und kochte und backte für alle, für ihren Vater und für die beiden junggeselligen Brüder und sich selbst.

Aber nun seid ihr doch verheiratet, hatte ich gesagt, als im vergangenen August, zwei Monate nach der Trauung, das erste Mal von Weihnachten die Rede gewesen war, kein Ehepaar trennt sich der Eltern wegen zu Weihnachten. Barbara hatte vor zehn Jahren Manfred ihr erstes Jawort fürs Leben gegeben und hatte sich von ihm vor fünf Jahren scheiden lassen, aus Liebe zu Hildegard. Fünfmal hatte sie zum Heiligen Abend ihre Schwiegereltern samt Manfreds allein stehender Tante sowie ihren eigenen Vater und ihre Brüder, natürlich auch Manfred, in ihrer ehelichen Dreizimmerwohnung bekocht und bedient. Nach dem fünften Heiligen Abend kam die Scheidung.

Nicht wegen Weihnachten, betonte Barbara. Aber, sagte ich, ihr seid jetzt verheiratet, Hildegard und du, ihr könnt euch doch nicht weiter jedes Weihnachtsfest unter den elterlichen Christbaum stellen, als gäbe es nichts Wichtigeres in eurem Leben.

Meine Mutter, sagte Hildegard, kann ich nicht allein lassen, nicht am Heiligen Abend, wenn meine Schwestern mit ihren Männern kommen, dann braucht sie mich. Ich dachte, sagte Barbara, du seist jetzt mit mir verheiratet.

Und was ist mit deinem Vater, fragte ich? Meine drei Männer Weihnachten alleine, Barbara war erschüttert, wer soll die Gans braten, wer soll den Karpfen zubereiten, wer soll die Kekse backen, wer soll die Mousse au Chocolat . . .? Hildegard und mir lief das Wasser im Mund zusammen.

Lass deinen Vater mit seinen Söhnen essen gehen, sagte ich, und Hildegard sagte: Weihnachten wäre eine gute Gelegenheit, unseren Eltern zu zeigen, dass es uns gibt, ich meine uns zusammen, dass wir ein Paar sind, du und ich, selbstverständlich weiß meine Mutter schon lange, dass ich lesbisch bin, aber jetzt mit Barbara in meinem Leben und an meiner Seite. Und Baraba sah nachdenklich auf Hildegard und sagte, sie könnte ihrem Vater einen kleinen Hund zu Weihnachten schenken, dann würde er sie nicht mehr so vermissen.

Vortrefflich, sagte ich. Aber dann kam es doch anders. Alle vier fuhren zusammen auf eine Insel, Hildegard und ihre Mutter mit Barbara und ihrem Vater. Immerhin auf eine Insel mit Festlandanschluss, nämlich Rügen. Die Reise war ein Weihnachtsgeschenk der Töchter an die Eltern. Und diese Weihnachtsgeschichte wollte Hildegard mir nun vorgestern am Telefon erzählen. Der Apparat war so geschaltet, dass Barbara jedes Wort mithören konnte.

Also, sagte ich, ihr fuhrt los Richtung Rügen. Ach wo, sagte Hildegard, erst mal mussten wir entscheiden, wer wo im Auto sitzt, ob Barbaras Vater vorn mit mir, dann wäre Barbara bei meiner Mutter hinten gewesen oder etwa meine Mutter mit Barbaras Vater, aber die konnten wir doch nicht einfach auf dem Rücksitz zusammenstecken, und darum saß dann meine Mutter vorn neben mir und Barbara mit ihrem Vater hinten. Für den Anfang fanden wir das besser so, die beiden kannten sich doch gar nicht.

Im Hintergrund hörte ich Barbara: Genau, mein Vater war ganz stumm und steif. Im Hotel, sprach Hildegard weiter, sei gleich etwas schief gelaufen, die hätten zwei Doppelzimmer reserviert anstatt ein Doppel und zwei Einzel, und Einzel waren nun ausgebucht, ihre Mutter sei es gar nicht mehr gewohnt, neben einem Mann zu liegen, dazu noch einem völlig fremden Mann, darum hätten Barbara und sie entschieden, dass sie mit ihrer Mutter und Barbara mit ihrem Vater jeweils ins Doppelbett.

Verstehe, sagte ich, und Barbara hörte ich aus der Tiefe des Raumes rufen, ihr Vater habe das erst gar nicht annehmen wollen und immerzu gesagt, sie solle doch mit Hildegard das eine Doppelzimmer nehmen, das habe sie richtig toll gefunden von ihm, so tolerant. Genau, sagte Hildegard.

Barbara kam ans Telefon: Aber das habe ich abgelehnt, ich kenne doch meinen Vater, hörte ich sie in meinem Ohr sagen. Ihr Vater sei verklemmt, habe sie zu Hildegard gesagt, und Hildegard habe gesagt, ihre Mutter würde das auch nie machen. Und dann sei wieder alles ganz anders gekommen.

Meine Mutter,sagte Hildegard,kann ich nicht allein lassen, nicht amHeiligen Abend

Nächsten Morgen am Frühstücksbuffet, sagte Barbara, habe ihr Vater Hildegards Mutter von vorn und von hinten bedient. Da habe sie gestaunt, richtig galant sei er gewesen. Hildegard hörte ich im Hintergrund kichern. Und, fuhr Barbara fort, nach dem Spaziergang später im Swimmingpool und dann im Schlammbad, da konnte man sich einschmieren lassen mit einem warmen Brei aus Algen oder Kreide, ihr Vater habe seinen kleinen Fotoapparat dabei gehabt, bloß eine einfache Knipskamera, er bat Hildegards Mutter, ihn zu fotografieren, von Kopf bis Fuß eingeschmiert mit Algenbrei. Ausgesehen habe er wie der Froschkönig persönlich.

Am Heiligen Abend, hörte ich Hildegard sagen, duzten sich die beiden auf einmal, wir hatten gar nicht mitbekommen, ergänzte Barbara, wann das passiert war, und als das Geturtel zwischen ihnen nicht aufhörte, irgendwie unangenehm vor den Leuten, rief Hildegard dazwischen, da habe sie, Barbara, ihrem Vater vorgeschlagen, nun endlich doch auch das Doppelzimmer mit Hildegards Mutter zu teilen. Und weißt du, was er zu mir gesagt hat, schrie Barbara in mein Ohr, er hat gesagt, das habe er von Anfang an gewollt.

Und Hildegards Mutter, fragte ich? Meine Mutter, hörte ich Hildegard rufen, hatte nichts dagegen, dabei ist sie sonst so heikel, gerade Männern gegenüber.

Wie war denn die Rückfahrt, fragte ich. Hildegard kam noch einmal an den Apparat: Meine Mutter saß mit Barbaras Vater hinten, die tauschten Adressen aus, ich hinterm Steuer, und Barbara saß neben mir und rauchte.