Die Computerfiles von al-Qaida

„Trägt ein Stopp aller militärischen Aktionen dazu bei, Leute für den heiligen Krieg gegen Amerikaner zu mobilisieren? Gilt das auch für Israel?“

von BERND PICKERT

Es ist eine journalistische Traumstory – da läuft ein Reporter des Wall Street Journal durch Kabul, bekommt zwei gebrauchte Computer angeboten, einen Compaq-Laptop und ein IBM-Tischgerät, ersteht beide für 1.100 US-Dollar – nicht ohne zu erfahren, dass die Computer nach der überhasteten Flucht der Taliban und Al-Quaida-Kämpfer aus Kabul zurückgelassen und von einem Plünderer geklaut worden seien – schaltet an und findet sich inmitten des virtuellen Verwaltungsapparates der „Firma“ des Ussama Bin Laden.

Seit 1997, schreibt das Wall Street Journal, sei der Computer in Benutzung gewesen, das Programm Microsoft Windows und die brav gespeicherten Zugangsnamen verweisen unter anderem auf zwei Benutzer aus dem engsten Führungskreis um Bin Laden: Dr. Ayman Zawahri und Mohammed Atef. Zawahri, ein aus Ägypten stammender Chirurg, der seit früher Jugend in radikal-islamistische Aktivitäten verstrickt war, wegen Beteiligung an dem Attentat auf Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat 1981 zu drei Jahren Haft und 1999 gar in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, gilt als rechte Hand Bin Ladens. Er soll zunächst Chefideologe, dann auch Finanzmanager der Organisation gewesen sein. Neben zahlreichen unter einem seiner verschiedenen Aliasnamen verfassten Briefen findet sich auf der Festplatte auch ein als Word-Dokument abgespeichertes Türschild: „Dies ist ein Arbeitsplatz! Wer hier nicht arbeitet, tritt bitte gar nicht erst ein. Dr. Ayman“.

Mohammed Atef, der bei Bombenangriffen auf Kabul im November ums Leben gekommen war, galt als al-Quaidas Militärstratege und direkter Verantwortlicher der Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam 1998.

Zwar finden sich auf dem Computer nach Auswertung durch das Wall Street Journal keine direkten Hinweise auf die Planung der Anschläge vom 11. September in New York und Washington, doch sind die US-Geheimdienste verzückt über die Fülle des Materials. Marc Enger, früherer Operationschef des Geheimdienstes der US-Luftwaffe, sagte der Nachrichtenagentur AP, schon seit Jahren konzentrierten sich die US-Streitkräfte auf Computer als Informationsquellen – auch nach der Invasion in Panama 1989 und dem Golfkrieg 1991 sei es gelungen, von Computerfestplatten wertvolle Hinweise zu erlangen. Dabei gelte die Faustregel: Je schneller der Vorstoß gegen den Feind voranschreite, desto umfangreicher seien die Informationen. „Früher hatte man Stahlschränke mit wertvollen Unterlagen, und ein paar Handgranaten lagen herum, um den Safe gegebenenfalls zerstören zu können“, sagte Enger. „Diese Leute aber waren mehr darauf erpicht, wegzukommen, als dass sie sich Gedanken darüber gemacht hätten, welche Informationen sie hinterlassen.“

Insbesondere Hinweise auf Versuche al-Quaidas, Anschläge mit chemischen und biologischen Waffen vorzubereiten (Deckname: „gegorene Milch“), interessieren die US-Behörden. Allerdings räumt Dr. Zawahri in einem Memo vom April 1999 ein, dass die Organisation da schlampig vorgegangen sei: Trotz der extremen Gefahr solcher Waffen „haben wir uns erst damit befasst, als uns der Feind darauf aufmerksam machte, indem er immer wieder betonte, wie einfach sie hergestellt werden können.“ In einer Datei vom 7. Mai 1999 heißt es dann, es stünden 2.000 bis 4.000 US-Dollar für die Einführungskosten des Programms bereit, und am 23. Mai berichtet Zawahri über einen Besuch bei einem ägyptischen Wissenschaftler mit dem Decknahmen Abu Khabab, man habe „einige sehr nützliche Ideen“ ausgetauscht: „Es braucht nur noch ein paar Tests, um den praktischen Nutzen voll zu entwickeln.“ Besonders ermutigend seien Vorschläge zur Nutzung eines hausgemachten Nervengases, das aus Insektiziden und einigen chemischen Zusätzen produziert werden könne. Abu Khabab, so das Wall Street Journal weiter, habe laut Informationen der US-Behörden in einem Lager nahe Dschalalabad Versuche mit Nervengas an Hunden und Hasen durchgeführt. Das Lager sei inzwischen durch US-Bombenangriffe zerstört worden. Doch die Computerdaten geben laut Wall Street Journal keinen Hinweis darauf, wie weit al-Quaida tatsächlich mit der Produktion gekommen sei.

Eine Datei beinhaltet ein Rechtsgutachten zur Tötung von Zivilisten, mehrere Dateien enthalten Videodateien, darunter Bilder von flüchtenden Menschen am 11. September in New York, unterlegt mit Koranversen, andere Textdokumente zeugen vom banalen alltäglichen Innenleben der Organisation. Da beschwert sich ein ungenannter Autor in einem Brief von 1998 über Schlampigkeiten und Unregelmäßigkeiten der Führung, etwa den Verlust einer Computerfestplatte im Sudan, die Ausgaben für einen Besuch in Malaysia, der Sinn eines Besuches in Tschetschenien? Wütend zweifelt der Autor schließlich an „Managementmethoden, die schon zum Weggang einiger Brüder aus der Firma geführt haben und weitere in Versuchung bringen“.

Andersherum geht Dr. Zawahri in einem Brief an Kollegen der ägyptischen Islamisten frontal gegen deren Entscheidung zu einem Ende der Anschläge und einer Vereinbarung mit der Regierung 1998 vor: „Verehrter Bruder, ich habe gezögert, diesen Brief zu schreiben, als angekündigt wurde, dass du zu einem Stopp aller militärischen Aktionen aufgerufen hast. Trägt diese Position dazu bei, Leute für den heiligen Krieg gegen Amerikaner zu mobilisieren? Gilt das [Ende der Aktionen] auch für Israel?“

Auch mit der Taliban-Führung waren sich die Al-Quaida-Chefs offenbar nicht immer einig. In einem Bericht von 1998 über ein sehr erregtes Treffen zwischen Taliban-Chef Mullah Mohammed Omar und „Abu Abdullah“, ein Aliasname Ussama Bin Ladens, heißt es warnend, al-Quaida könnte den freien Zugang zu den Lagern in Afghanistan verlieren – wie nach dem Rauswurf aus dem Sudan 1996. Über die Gründe des Zerwürfnisses ist nichts bekannt.

Briefe, so das Wall Street Journal, wurden offenbar entweder auf Disketten kopiert oder ausgedruckt und überbracht. E-Mail-Verkehr jedenfalls ist kaum festzustellen – was wohl dem schlechten afghanischen Telefonnetz zuzuschreiben ist. Die Benutzung der Satellitentelefone, über die al-Quaida verfügte, galt als zu riskant, nachdem abgehörte Gespräche Ayman Zawahris den USA 1998 als Beweis dienten, dass al-Quaida für die Anschläge von Nairobi und Daressalam verantwortlich war, bei denen 224 Menschen starben und rund 5.000 verletzt wurden. In einer ebenfalls gespeicherten Grußadresse lobt ein „Abu Yaser“ nach den 1998er-Anschlägen, „was Sie getan haben und all die Arbeit und Mühe, die Sie auf sich nehmen, um die Feinde Gottes zu plagen“.

Ob die gespeicherten Briefe Zawahris und Atefs tatsächlich abgesandt wurden, ist nicht ersichtlich. Ein Angebot Mohammed Atefs an die US-Fernsehsender ABC, CBS und CNN vom Oktober 1998 – also nach den US-Raketenangriffen gegen Ziele im Sudan und in Afghanistan –, den Sendern gegen zu verhandelnde Zahlungen Bin-Laden-Videos mit Drohungen gegen die USA und Israel zukommen zu lassen, ist offenbar nie abgeschickt worden – jedenfalls haben alle drei Sender laut Wall Street Journal bestritten, jemals so einen Brief erhalten oder gar Filmaufnahmen von Atef gekauft zu haben.

Seinen Adressaten erreicht hat allerdings offenbar ein anderer Brief, gerichtet an Ahmed Schah Massud, den charismatischen Führer der Nordallianz, der ebenfalls auf dem Computer gespeichert ist. Darin wird Massud von einem ominösen vorgeblich in London ansässigen „Islamischen Beobachtungszentrum“ um ein Interview ersucht (s. Kasten). Am 9. September starb Massud durch Sprengsätze, die zwei angebliche Journalisten am Körper und in ihrer Kamera trugen.