stoisches extremshopping in der schlangengrube
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von ARNO FRANK

Nur schnell noch zwei Flaschen elsässischen Crémant und ein Päckchen Hirse einkaufen, atemlos, am letzten Nachmittag des Jahres, also runter die Rolltreppen in die Lebensmittelabteilung des Berliner Karstadt am Herrmannplatz, wo die erste Schlange sich am leeren Platz für die Einkaufswagen gebildet hat, weil keine Wagen mehr da sind, alle drin, allein bis zum Gemüse brauche ich fünfzehn Minuten, weil es hier so voll ist wie auf einer indonesische Fähre kurz vorm Kentern, keine zwei Schritte ohne Ausweichen, der Rucksack macht mich zu einem buckligen Hindernis, da werde ich an einer taz-Kollegin vorbeigeschoben, die Extremsituationen von ihrer Zeit in palästinensischen Ausbildungslagern kennt, rufe ihr zu, dass wir uns ’nen tolle Tag zum Einkaufen ausgesucht haben, und sie sagt noch leichthin, wir hätten doch „Zeit bis nächstes Jahr“, bevor sie und ihr gesegneter Langmut fortgetrieben werden wie ein Ertrinkender in atlantischer Dünung, und wo finde ich jetzt die Hirse, „Na, drüben, links neben den Kassen, beim Reis“, sagt seelenruhig der Verkäufer, worauf ich mich wieder auf den Weg mache, quer durch den Markt wie durch dicht vermintes Gestrüpp, gestresste Pärchen kurz vor der Detonation, ein Kind staunt rundäugig von den Schultern seines Vaters herab auf die tanzenden Köpfe in diesem Purgatorium, Körper um Körper, warmer Atem, Ellbogen wie Bajonette, gezischte Flüche, bis mir nach zwanzig Minuten das Reisregal wie eine rettende Küste leuchtet, aber Hirse, nein, die gibt’s „hinten beim Essig“, und ich folge einem ausgestreckten Zeigefinger über Käsetheke und Brotstand, über Ozeane und Gebirge also zum anderen Ende der Welt, wo ich in einem entlegenen Dschungel aus dampfenden Leibern endlich die gottverdammte Hirse ergattere, finde das Ende meiner Schlange – und ächzend wie ein Lkw nach Vollbremsung kommt jäh die Zeit zum Erliegen.

Zur Kasse sind es keine zwanzig Meter Luftlinie. Zwanzig Meter, für die ich zwei geschlagene Stunden brauchen werde. Zwei gewundene Stunden quer durchs Einkaufsparadies. Hinter mir reihen sich ein: Herr und Frau Blockwart, giftgrün erpicht, dass niemand sich in die Schlange mogele: „Ende is’ hinten!“ Vor mir wartet: eine junge Frau mit der Geduld eines Engels. Mit Löwenzahn und Äpfeln im Körbchen. Bis wir an der Kasse sind, wird der Proviant verzehrt und das Grünzeug verwelkt sein. Schritt um Schritt. Bald drängen sich andere Schlangen in die unsere, kommt sich die Hydra selbst ins Gehege. Biedermännern wachsen Fangzähne. Nervenkostüme aus Polyester gehen in Flammen auf. Der duldsame Engel dagegen lässt bereitwillig kleine Jungs vor, die nur ein paar Knallfrösche bezahlen wollen. Mir bietet sie einen Apfel an. Gemeinsam ducken wir uns vor den fliegenden Fetzen, träumen von einer Zigarette, preisen dieses Abenteuer und verabreden uns für nächstes Jahr. Selber Ort, selbe Unzeit. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann meine Hirse auf das Förderband stellte, mit einem silbernen Seufzer der Erleichterung. Und dass ich den Crémant vergessen habe.