Breakdance wie vor hundert Jahren

Als lebensfrohes Trommelspektakel ist der Capoeira bei Touristen aus aller Welt überaus beliebt, verstanden aber wird sein tieferer Sinn kaum. Jenen, die ihn erlernen, gilt der afrobrasilianische Kampftanz nämlich als Schule des Lebens

aus Bahia GERO GÜNTHER

Das Freizeitgelände liegt im Dunkel. Nur der Flachbau mit der gefliesten Veranda ist hell erleuchtet. Fünfzig Menschen stehen im Kreis. Sie trommeln, klatschen und singen. Die meisten der jungen Frauen und Männer tragen weiße Tops und Sporthosen mit breitem Schlag. Sie sind barfuß. Zwei, manchmal auch drei oder vier treten in die Mitte des Kreises. Sie belauern einander, ducken sich, dann schießen die Gliedmaßen aufeinander zu. Einer dreht sich auf dem Kopf um die eigene Achse, geht in den Handstand, stößt von unten mit dem gestreckten Fuß an die Gurgel seines Gegners. Der lässt sich blitzartig fallen, federt vom Boden ab und schnellt seitlich unter dem anderen hindurch. Dann lachen sie, trennen sich per Handschlag und kehren zurück in den Kreis.

„Capoeira“, sagt Mestre Jelon Vieira, „ist Respekt vor dem Leben.“ Respekt vor dem Leben mit seinen ernsten und spielerischen Seiten, Respekt vor dem Leben mit all seinen Tricks und Finten. Dem Leben als Überraschungsangriff. Ein Mädchen drängt per Handstandüberschlag in die Mitte. Gleichzeitig schraubt sich ein geschmeidiger Riese in die Luft. Jetzt gehen sie scheinbar schwerelos aufeinander los. Wie im Zeitraffer wirbeln die Arme und Beine haarscharf aneinander vorbei. Der Rhythmus der Trommeln wird immer schneller, die Stimmen immer lauter. Plötzlich, durch eine winzige Handbewegung des Meisters – ist der Kampf beendet. Die Trommeln schweigen, die Rasseln und Berimbaus ebenso.

„Ein Capoeira-Meister lehrt seine Schüler nicht nur, aufeinander loszugehen“, erklärt der 48-Jährige in der Nike-Trainingshose. „Er muss eine Art Lotse sein.“ Selbstkontrolle, Strategiedenken und Zielstrebigkeit will Vieira seinen Schülern mit auf den Weg geben, aber auch Gemeinschaftssinn und Geborgenheit. Mestre Jelon ist ein weltläufiger Mann, ein gewiefter Profi mit Handy, vollem Terminkalender und Auftritten in den USA. Wenn er den Kids in New York vorführen kann, „dass es Breakdance schon vor ein paar hundert Jahren gab“, freut ihn das. Aber Jelon Vieira will, dass die Leute nicht nur staunen, sondern auch verstehen.

Capoeira – das kann man in Salvador de Bahia besser als an jedem anderen Ort Brasiliens beobachten – ist mehr als ein Sport. Denn in der Millionenstadt, dem Zentrum der afrobrasilianischen Kultur, ist der Kampftanz bis heute Bestandteil des Alltags. Eines Alltags, der für viele Bahianer von Armut, Korruption und Willkür begleitet wird. Ein Alltag, wie ein leckes Rohr, das leise vor sich hinplätschert – und doch jeden Moment platzen kann.

Uruguay ist eines der Viertel Bahias, die sich nach jedem starken Regen in eine große schlammige Pfütze verwandeln. Die meisten seiner Einwohner schlagen sich durch von Job zu Job. Die Familien hier wohnen in schmalen Rohbauten und tragen ihr Leben lang bestenfalls Badeschlappen. Auf einem Platz mitten in Uurugay steht ein großes, altes Kino, oder besser gesagt: sein Skelett. Es gibt keine Stühle mehr, kein Dach und keine Türen. Dafür versperrt ein schweres Eisengitter den Eingang, und wer hineinwill, muss den Mann mit dem Cowboyhut kennen. Dieser sitzt auf Bierkisten in seinem Büro, einer ehemaligen Abstellkammer. „Capoeira“, sagt Mestre Péde ferro (Meister Eisenfuß), „ist positive Energie.“ Auf den Regalbrettern lagern Reggaeplatten, Heiligenbilder und Kultgegenstände der Candomblé-Religion. Ein kleiner Junge stürmt in den Raum und wird vor die Tür gesetzt. „Capoeira“, fügt der Mann in der Jeansweste hinzu, „hält die Kinder davon ab, Blödsinn zu machen.“

Hauptberuflich ist der 43-Jährige Maurergehilfe. Die Capoeira-Schule leitet Meister Eisenfuß unentgeltlich. Er will Gutes tun, das hat er geschworen. Damals, als er wegen einer dummen Wette in den Tank eines Schiffwracks tauchte und dabei beinahe ums Leben gekommen wäre. „Man muss die Kinder immer im Auge behalten, oft mit ihren Eltern reden“, erklärt der Mestre, „denn unser Wissen kann leicht missbraucht werden.“

Capoeira ist eine Gratwanderung zwischen Aggressivität und Teamgeist, ein Balanceakt zwischen spitzbübischer Lebenslust und brutaler Rivalität. Bahianische Gangs stiften wie die berüchtigten Ninjas immer wieder schwere Schlägereien in den Barrios an. Und wenn der Fuß einmal nicht – wie vorgesehen – Millimeter an der Brust des Gegners vorbeistößt, vermag er ohne Weiteres zu töten.

In einem schlauchförmigen Raum im ersten Stock befindet sich das Klassenzimmer. In besseren Zeiten stand hier ein knatternder Apparat, der Zungenküsse und Schießereien auf die Leinwand projizierte. Heute tropft Wasser von der Decke und statt Filmrollen und Zelluloidstreifen zieren Zeichnungen muskulöser Super-Capoeiristas die moosigen Wände. Die Schüler haben sich in zwei Reihen vor dem Mestre postiert, Mädchen und Jungen zwischen 4 und 21 Jahren, bunt gewürfelt, eine typische Capoeira-Klasse. Sie haben Spitznamen wie Katze oder Brennessel. In den Türen drängen sich ein paar Zuschauer.

Der Unterricht beginnt mit einer kurzen Ansprache des Lehrers. Dann folgt das Schwurzeremoniell, schließlich Dehn- und Lockerungsübungen. Die großen Trommeln passen kaum noch in den Raum. Der Meister selbst spannt die Saite des Berimbau. Er wickelt den Draht um die Rute, an der als Resonanzkörper eine Kalebasse befestigt ist. Péde ferro hat inzwischen seine Weste abgelegt und steht mit nacktem Oberkörper da. Er testet die Beweglichkeit jedes einzelnen Schülers. Dann beginnt das eigentlichen Kampftraining: Sprünge, Drehungen, angetäuschte Stöße, Ausweichmanöver. Die Töchter des Mestre singen. Sticheleien oder Loblieder mit Texten wie „Schnapp dir den Neger, werf ihn um. Dieser Neger ist schnell, der Neger entwischt jedem.“

Capoeira ist die einzige Kampfsportart der Welt, die zu Musik improvisiert wird, und in Verbindung mit dieser rhythmischen Musik wird der Kampftanz zur eindrucksvollsten Leistung des Körpergedächtnisses, die man sich vorstellen kann. In den Muskeln und Sehnen der jungen Capoeiristas ist uraltes Wissen gespeichert, nur so ist die Abstimmung von Bewegungsabfolgen möglich, die so schnell sind, dass man sie mit dem bloßen Auge kaum noch erkennen kann.

Einst von entlaufenen Sklaven im Kampf gegen die Portugiesen entwickelt, ist Capoeira ein schlagkräftiges Ausdrucksmittel afrikanischer Identität, Symbol schwarzer Unterdrückung und schwarzer Befreiung. Dank komplexer Trommelcodes konnte direkt unter der Nase der Kolonialherrscher trainiert werden, die Rhythmen sprachen eine geheime Sprache. Rückte die Polizei an, gingen die kriegerischen Übungen nahtlos in harmlose Akrobatik über. In den Augen der Herrschenden galt Capoeira noch vor wenigen Jahren als eine Betätigung für Taugenichtse und Kleinkriminelle, dann kam die Aufwertung durch den Tourismus. Inzwischen wird Capoeira sogar in den Privatschulen der Wohlhabenden unterrichtet.

„Natürlich wollen sie die Neger manchmal bloß als Showeinlage auf irgendwelchen Veranstaltungen herumturnen lassen“, sagt Mestre Caroço. Caroço ist Lehrer am Colegio Apoio, einer teuren Oberschule auf Bahias Prachtmeile. „Die Mittelklasse hat keinerlei Capoeira-Kultur“, erläutert er, „das Interesse der Kinder wird oft erst durch das Internet geweckt.“ Caroços Schüler trainieren auf überdachtem Kunstrasen, nebenan wird Tischfußball gespielt. Ein paar Mädchen blättern gelangweilt in einem Magazin. Sie schauen nur auf, als die Musik vom Band schneller wird und die Jungs ihre spektakulärsten Sprünge zeigen. Capoeira, so scheint es, ist hier eine coole Sportart unter vielen. Eine Freizeitbeschäftigung wie Skateboarden oder Surfen. In Rio und São Paulo gibt es bereits Capoeira-Zeitschriften mit Postern, Sammelkarten und CDs, Versandhäuser, die sich auf Capoeira-Paraphernalien spezialisiert haben.

Von solchen Entwicklungen sind die meisten Akademien in Bahia noch meilenweit entfernt. Eifersüchtig wird über die strenge Ausbildung der Schüler gewacht. Obwohl es immer wieder Veränderungen gibt und fernöstliche Einflüsse heute gang und gäbe sind, weicht man von gewissen Prinzipien und Traditionen keinen Zentimeter ab. Schließlich steht die Verbindung zu den Wurzeln auf dem Spiel, das Erbe der afrikanischen Ahnen.

Wie fast alle bahianischen Meister verlangt Jelon Vieira von seinen Schülern, dass sie singen und trommeln können. Jeder Capoeirista muss die Grammatik der Rhythmen, die Toques, kennen und außerdem wissen, wie man ein Berimbau spielt und sogar baut. Denis Lisboa, Vieiras bester Berimbau-Spieler und einer der besten Perkussionisten Bahias, taucht mit einem Autoreifen unter der Arm auf. Er schneidet ihn auf, zieht das Drahtgeflecht mit der Kneifzange aus dem Gummi – und fertig ist die Saite des Pfeil-und-Bogen-ähnlichen Instruments. Das elastische Biribá-Holz und die Kalebassen, sagt Denis, gibt es auf dem Markt unterhalb der Altstadt.

Der Candomblé-Stand befindet sich direkt neben einem Metzger, dessen Auslage aus Schweinefüßen und Pansen besteht. Meterhohe Haufen aromatischer Kräuter, Kerzen, Puppen in weißen Kleidern. Auf den Regalen schützen Seifen und Badezusätze gegen Neid und böse Blicke. Unter der Decke hängen die Holzstäbchen und die mit Muscheln gefüllten Rasseln, mit denen man beim Capoeira den Takt schlägt. Vor dem Stand sitzen ein paar Männer beim Bier zusammen. Dominosteine klappern. Beim Gewürzhändler flimmert auf einem winzigen Bildschirm ein Fußballspiel. Ein Junge beginnt Berimbau zu spielen. Der Obstverkäufer folgt mit einer leeren Plastikflasche dem Takt. Einer macht ein paar kleine Sprünge. Weitere Trommeln werden geholt. Die Männer singen: „Es lebe Bahia, geliebte gute Erde.“