Couchpotato‘s Fernsehjahr

Statt Verjauchung kommt Verluderung, Gerichts-TV erobert die Mattscheibe, die Intendantenwahl beim ZDF wurde verschoben und nicht nur Roger Willemsen sagt adieu: Das Programmjahr 2001 – penibel sortiert, verpackt und abgelegt von

HARALD KELLER

ARD – Als „Big Brother“, „Girlscamp“ und „Big Diet“ bereits den Bach hinabgegangen und ganz tief unten angekommen waren, meldete die ARD, mit „schwarzwaldhaus.de“ nun brandaktuell und blitzgeschwind auch eine Reality-Soap an den Start bringen zu wollen. Aber die muss dann wohl im deutschen Schicksalstann verloren gegangen sein.

Bauer, Gabi – Brachte, nachdem sie von den schwerst Nachrichtenabhängigen mit Wehmut in den Schwangerschaftsurlaub entlassen worden war, neben ihrem Nachwuchs auch noch eine neue Talkshow zur Welt. Wenn Anne Will es ihr eines Tages nachtut, hätte man doch schon wieder was, worauf man sich freuen kann.

Beziehungsfernsehen

Coming-out – Mit der üblichen Verspätung wurde die neue Homophilie US-amerikanischer Serienautoren sichtbar: Bei „Emergency Room“ erlebte Dr. Weaver ihre Offenbarung, bei „Buffy – Im Bann der Dämonen“ entdeckte Willow ihr Faible fürs andere Geschlecht. Die Jungs bekamen mit „Will & Grace“ die erste Sitcom mit schwulem Titelhelden und blieben weiterhin „Chaos City“ treu. Im prüden Deutschland aber müssen Maren Kroymann und Dirk Bach unverändert Heteros mimen. Und das ist gar nicht gut so.

Duales System – Wurde in den Ausprägungen Raab vs. Halmich, Feldbusch vs. Schwarzer und Christiansen vs. Kock am Brink nachgerade zu seiner höchsten Reife geführt. Nur Roger Willemsen bevorzugte den Alleingang.

Ereignisfernsehen – Der Dreiteiler „Die Manns“ fand die Fernsehkritik schlechterdings gleichgeschaltet in ihrer positiven Einstellung. Obschon Armin Mueller-Stahl sonst wen spielte, aber gewiss nicht Thomas Mann; trotz einer disparaten Inszenierung und wenig überzeugenden Schnittfolgen. Mannomann.

Fernsehmacher – Deren neue braucht das Land / Die alten sind ja abgebrannt. Siehe EM-TV, Kinowelt und die auf Treibsand stehenden Kirchtürme.

Grundeis – Zeitweilige Lagerstätte führender ARD-Gesäße, als die deutsche Nationalmannschaft gegen die Ukraine patzte und die teuer erworbenen Rechte an der Fußballweltmeisterschaft nichtig zu werden drohten. Derweil wurde bei Roger Willemsens Kulturreisen mächtig geknausert. Was diesen sehr erboste.

Heiratsshow – RTL nahm Rache für den Verrat von 1991, als Sat.1 vorzeitig die Auflösung der Serie „Twin Peaks“ preisgab, und beantwortete des Erbfeinds Titelfrage „Wer heiratet den Millionär?“ vorweg mit einem in aller Heimlichkeit vorbereiteten „Ich heirate den Millionär“. Die Kennenlernwochen erwiesen sich im Nachhinein als fauler Zauber. Säuerlich schürzte Roger Willemsen die Lippen.

Infamie – Gleichfalls bei RTL und Sat.1 wurden ahnungslose Junggesellen mit vorgehaltener Kamera von ihren Verlobten zum Ehegelöbnis gezwungen. Wieder einmal kommt Wolfgang Borcherts Imperativ „Sag nein!“ zu seinem Recht. Befremdet putzte Roger Willemsen die Brille.

Trends und Pleiten

Jurisprudenz – Exekutive und Justiz erfreuten sich in diesem Jahr bei Fernsehmachern außerordentlicher Beliebtheit. Zunächst wetteiferten öffentlich-rechtliche wie private Sender darin, Kriminalbeamte bei der Arbeit zu begleiten, und rückten an deren Seite ohne Zögern in diverse Privatsphären ein. Aus diesem eigentlich ja geschützten Bereich stammen auch die Fälle der alsbald prosperierenden nachmittäglichen Gerichtsshows. Aber hier gibt’s mildernde Umstände: Ist ja alles nur gespielt.

Kulturträger – Als einer unserer Feuilletonisten zufällig mal wieder die Harald-Schmidt-Show einknipste, ließ der gerade Studiobesucher einen Bühnenklassiker lesen. Dergleichen tat er oft, aber das wusste unser naseweises Feuilletonistenbürschlein nicht und erkannte einen guten Anlass, sich hervorzutun und tüchtig Zeilen zu schinden. So wurde Harald Schmidt als letzter Brain-Pol und Exponent der Hochkultur inmitten minderwertiger Bilderströme ausgemacht. Was vielfach nachgeplappert wurde, von den puerilen Redakteuren der Sendung aber mutmaßlich mit krachendem Schenkelklopfen quittiert worden sein dürfte. Roger Willemsen registrierte es mit Schmerzen.

Lachverhalt – Mit leisem Lächeln und lauteren Absichten apostrophierte Schlachtenbummler Peter Scholl-Latour das „Ende der Spaßgesellschaft“. Aber darf man denn vom Schicksal Sabine Christiansens gleich auf gesamtgesellschaftliche Befindlichkeiten schließen? Roger Willemsen folgte brav und verkniff sich fortan jegliches Geschmunzel.

Medienberichterstattung – Der gute Vorsatz fürs neue Jahr: Wir wollen beim Abfassen unserer Texte nicht mehr ausschließlich eine Erwähnung in der Rubrik „Altpapierkorb“ der Netzeitung anstreben, sondern gelegentlich auch mal wieder an die zahlenden Zeitungskäufer denken. So wie es sich Roger Willemsen zur Gewohnheit werden ließ.

Neun Live – Frei nach Bert Brecht wurde der Empfänger zum Sender. Wobei der Sender die beim „Interaktionsfernsehen“ unumgänglichen überhöhten Telefongebühren empfängt. Und was war nochmal verbrecherischer, als einen Sender zu überfallen? Einen Sender zu besitzen?

Klatschkultur

Ortung – Während die Kulturkritik im ersten Halbjahr noch beflissen jedes Phänomen der so genannten Spaßgesellschaft verbellte, zogen unbemerkt schon wieder neue Zeichen auf: Der Heimatfilm, ob als alter Schinken in dauerrotierender Wiederholung in den Dritten oder als zeitgemäß bemäntelte Neuinszenierung, trat wieder häufiger in Erscheinung. Und lenkte vom Wesentlichen ab.

Programmpleite – Sat.1 demonstrierte mit „Girlscamp“ am praktischen Beispiel, was passiert, wenn man ein Erfolgsformat nachzuahmen sucht, ohne zuvor dessen publikumswirksame Faktoren analysiert zu haben. Aber die Erkennungsmelodie, das muss man auch mal anerkennen, war exzellent. Gern hörte man öfter groovige Titelsongs anstelle des üblichen einfallsfreien Akkordgeschrubbes. Nicht aber der Reklame entnommene Jazz-Gassenhauer wie seinerzeit bei „Willemsens Woche“.

Qualitätsfernsehen – Die „Sopranos“ kehrten zurück. Und für die steht man ja gerne auch mal nachts auf. Sofern man keinen Videorecorder besitzt.

Ruinen – In einer Mainzer Bergfestung verrammelten sich Vertreter der Nord- und der Südallianz, einen neuen Intendanten zu bestimmen, mochten sich aber nicht einig werden. Wenn das mal keinen Krieg gibt im neuen Jahr . . .

Sitcom – Jahrelanges Üben hat geholfen. Zumindest bei RTL. Sitcoms wie „Mein Leben & ich“ können sich sehen lassen. Vor allem bei den Öffentlich-Rechtlichen aber gibt es in dieser Sparte noch Lern- und Ladehemmungen.

Traumbesetzung – Als sehr erfolgreich fürs ZDF erwies sich die Mannschaftsaufstellung Kerner-Feldbusch-Schwarzer. Intern auch „Das Goldene Dreieck“ geheißen. Im neuen Jahr versucht’s Kerner erst mal alleine. Nicht auf den Spuren Schmidts, sondern, die Älteren erinnern sich noch, in den Fußstapfen Thomas Gottschalks. Und der hat’s damals auch schon nicht gepackt.

Unbehagen – Äußerte der sich langsam verabschiedende ZDF-Intendant Dieter Stolte über den Silikonüberhang einer Ausgabe der Reihe „Wetten, dass . . .?“ Ist doch aber nicht neu, dass es sich bei „Wetten, dass . . .“ um eine Push-up-Sendung handelt und Gastgebers Nase gern auf tiefe Dekolletees zielt. Vgl. auch sein Late-Night-Wirken seinerzeit bei RTL.

Viva – Kaufte Brainpool und will jetzt Trainingslager der deutschen Unterhaltung werden. Ein solches fehlt, seit die Dritten Programme der ARD als Spielwiese für den Nachwuchs nicht mehr zur Verfügung stehen. Harald Schmidt, Jürgen von der Lippe, Hape Kerkeling, Götz Alsmann, auch Thomas Gottschalk und viele andere wurden hier einst gehegt und geduldig großgezogen. Und es hat ihnen nicht geschadet.

Abschied nehmen . . .

Willemsen, Roger – Ging grollend ab. Und hinterließ lachende Gesichter.

X-Akten – Anders als im Falle Willemsen war der Verlust Fox Mulders ein herber. Es bleibt die immer währende Maxime des melancholischen FBI-Dissidenten: Traue niemandem. Und Drehbuchautoren schon gar nicht. Immerhin wurden nach Mulders Verschwinden Scullys Dekolletees deutlich freizügiger, was Thomas Gottschalk sehr gefallen haben mag. Aber bis zu den XXX-Akten ist es noch weit hin.

Zaungäste – Else Buschheuer wurde in den Feuilletons ausführlich an-, war dann aber ganz flink auch wieder abgemeldet. Dabei wollte die ARD endlich mal ein bisschen Zeitgeist verströmen. Doch den kann man nicht kaufen, den muss man wittern. Die dazu nötige Nase hat Benjamin von Stuckrad-Barre. Nur ist der leider denkbar weit entfernt von einem guten TV-Moderator, wie er mit „MTV Lesezirkel“ hinlänglich unter Beweis stellte. Es herrscht schon ein großes Elend dort draußen . . .