„Stell dich doch nicht so an“

Wer mit Mädchen arbeitet, bekommt es wahrscheinlich auch mit sexuellem Missbrauch zu tun. Die Wandsbeker Beratungsstelle „Allerleirauh“ hilft auch Helfern  ■ Von Sandra Wilsdorf

Ein Kind stellt fest: „Omas Schlabberküsse sind eklig.“ Mutter fürchtet um den Frieden: „Stell' dich doch nicht so an, sie hat dich doch lieb und schenkt dir auch immer so schöne Sachen.“ Psychologen und Sozialpädagogen urteilen: „grundverkehrt“. Denn wer nicht sagen darf, welche Art von Berührungen angenehm sind und welche nicht, wird wahrscheinlich auch nicht „Nein“ sagen, wenn Nachbar, Onkel, Freund der Familie oder Vater aufdringlich werden. Denn auch in diesen Fällen werden Menschen unangenehm, die eigentlich zu den „Guten“ gehören.

Deshalb geht es bei Prävention vor sexueller Gewalt um das Wahrnehmen der eigenen Gefühle, aber auch um das Selbstbewusstsein, sie zu vertreten. Die Wandsbeker Beratungsstelle bei sexuellem Missbrauch, „Allerleirauh“, gibt diese Grundsätze an Eltern und Pädagogen, aber in Selbstbehauptungskursen auch an Mädchen weiter. Den Namen hat der Verein von einem Märchen der Gebrüder Grimm, in dem die Tochter ihren Vater heiraten soll und sich davor in einem schützenden Mantel aus „allerlei Rauhwerk“ flieht.

Neben Beratung und therapeutisch angeleiteten Gruppen für betroffene Mädchen und junge Frauen bildet der Verein Menschen weiter, die professionell mit Jugendlichen zu tun haben. Denn jedes 5. bis 8. Mädchen und jeder 12. Junge erfahren bis zu ihrem 14. Geburtstag sexuelle Gewalt. So ist es für Lehrer, Trainer, Jugendarbeiter wahrscheinlich, dass sich ihnen mindestens einmal die Frage stellt: „Was tun?“, weil sie den Verdacht haben, dass ein ihnen anvertrautes Mädchen missbraucht wird oder wurde.

Die Antwort ist weder einfach, noch eindeutig. Wenn gute Schülerinnen oder Schüler plötzlich schlecht werden, mittags nicht nach Hause wollen, wenn sie lebhaft waren und sich nun zurückziehen, schweigsam und traurig wirken, wenn ein ruhiges Kind aggressiv wird, es plötzlich dauernd über Sex spricht und seine Mitschüler zu Sexspielen auffordert, dann kann das auf Missbrauch hindeuten, aber auch ganz andere Ursachen haben. „Es geht uns nicht um eine detektivische Ausbildung, sondern da-rum, diese Möglichkeit im Hinterkopf zu haben“, erklärt Sabine Ströbele den Ansatz der Seminare.

Die Psychologin weiß, welche Fragen immer wieder auftauchen: „Muss ich zur Polizei gehen? Mache ich mich strafbar, wenn ich es nicht tue – aber was für eine Maschinerie setze ich damit in Bewegung?“ Grundsätzlich gilt: „Man muss nicht zur Polizei gehen, und tut man es, ohne mit dem Mädchen geredet zu haben, ist damit meist niemandem geholfen“, sagt Ströbele.

Es gehe zunächst darum, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen. Und das kann dauern. Dass Mädchen von zu Hause weg wollen, ist selten. „Meist haben sie große Schuldgefühle.“ Das Gefühl, irgendwie schuld an den Übergriffen zu sein, schuld, die Familie zu zerstören, schuld, die kleinen Geschwister alleine zu lassen. „Wenn das Mädchen bei der Familie bleiben will, muss man das akzeptieren und versuchen, es zu stärken, damit es sich besser abgrenzen kann“, rät die Psychologin. Sie weiß, „das ist schwer auszuhalten“.

Häufig gehe es nur um die Botschaft, „ich habe bemerkt, dass mit dir etwas nicht stimmt, und du bist mir so wichtig, dass ich mir Sorgen mache“. Aber auch Rückzug und totales Abblocken müsse man akzeptieren, Hilfe darf nur ein Angebot sein.

Zu Interventionsmöglichkeiten und rechtlichen Fragen, zu Gesprächsführung und Beratung von Mädchen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, bietet „Allerleirauh“ Veranstaltungen an festen Terminen, aber auch zu individuell erwünschten Fragestellungen für bestehende Teams. Neuerdings dürfen an einigen Seminaren auch Männer teilnehmen. „Darüber haben wir lange diskutiert“, sagt Sabine Ströbele. Denn die betroffenen Mädchen und Frauen sollen nach wie vor einen geschützten und männerfreien Raum vorfinden, wenn sie zur Beratung kommen. Deshalb finden die gemischten Seminare grundsätzlich nicht während der Beratungszeiten statt. Und Seminare, in denen es auch um sehr persönliche Erfahrungen geht, sind nach wie vor ausschließlich für Frauen. Infos und das neue Programm gibt es unter 040/29 83 44 83 oder unter www.allerleirauh.de.