Seismograf der Toleranz

Heute hat Peymanns Inszenierung von Lessings „Nathan“ Premiere. Das Ringparabel-Werk verlangt nach dem 11. September wie der oft geforderte Dialog der Religionen vor allem eines: Ehrlichkeit

Das Stück wie der Dialog der Religionen sind schwieriger, als es erst einmal scheint

von PHILIPP GESSLER

Heute ist Premiere. Altmeister Claus Peymann inszeniert in seinem Berliner Ensemble Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“. Nun sind die Zeiten lang vorbei, da ein Theaterstück an der Spree Stadtgespräch sein konnte. Auch die Hauptthemen des „dramatischen Gedichts“ in Blankversen aus dem Jahre 1779 haben bis vor wenigen Monaten kaum jemanden umgetrieben: „Religion“ und „Toleranz“ – was soll das in einer Stadt, in der die Mehrheit der Bevölkerung überhaupt keiner Religion angehört und Toleranz eher als „scheißejal“ buchstabiert wird?

Doch seit dem 11. September vergangenen Jahres ist vieles (manche sagen, alles) anders: Zumindest unmittelbar nach den Anschlägen von New York und Washington waren die Kirchen plötzlich voll, forderten berufene wie unberufene Stimmen auf einmal einen „Dialog der Religionen“: damit es nicht zum clash of civilizations, zum Zusammenprall der Kulturen, komme, die sich nach Samuel Huntingtons These vor allem entlang der Religionsgrenzen formieren. Und siehe: Lessings Fünfakter „Nathan“ ist auferstanden als wieder ganz heißer Stoff für die Bretter, die die Welt bedeuten. Das Deutsche Theater reagierte am schnellsten und setzte das Toleranz-Märchen des protestantischen Aufklärers schon Mitte Oktober wieder auf den Spielplan: Für Friedo Solters Inszenierung von 1987, seitdem mehr als 280-mal gespielt, hob sich wieder der Vorhang (Hauptrolle: Otto Mellies). Und auch Peymann griff unter dem Eindruck der Anschläge und ihrer Folgen auf den alten Stoff zurück. Er will den Klassiker neu inszenieren. Doch kann uns das alte, so oft gespielte und im Deutschunterricht vielfach zu Tode genudelte Werk heute wirklich noch etwas sagen? Und was hat das alles mit Berlin zu tun?

Tatsächlich gibt es eine recht enge Verbindung der ehemals preußischen Hauptstadt mit Lessing und seinem „Nathan“. Der emsige Schriftsteller und Theaterkritiker, der immer wieder jahreweise an der Spree wohnte, hatte erstmals während seines Berliner Aufenthalts zwischen 1748 und 1751 die Idee, die Religionen in einem Drama miteinander zu vergleichen. Schon 1749 thematisierte er in dem Lustspiel „Die Juden“ antisemitische Vorurteile, ohne jedoch religiöse Fragen in den Vordergrund zu stellen. Aber das Thema „Religion“ ließ Lessing, einen Freund des jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn, nicht los. Mit dem erzkonservativen Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze lieferte er sich 1777/78 einen erbitterten Disput mit dem Federkiel um die Frage des wahren Glaubens. Als die Zensurbehörde Lessing weitere Briefe gegen Goeze verbot, schrieb er als Kampfschrift gegen den Verteidiger der alten Religion stattdessen seinen „Nathan“. Ein „rührendes Stück“, wie er es selbst nannte, und gleichwohl ahnte er: „Die Theologen aller geoffenbarten Religionen werden freilich innerlich darauf schimpfen.“

Erst nach Lessings Tod wurde das Werk uraufgeführt – am 14. April 1783 im Berliner Theater an der Behrenstraße. Ein großer Erfolg war es nicht. Und auch als das Drama 1801 in der Bearbeitung Friedrich Schillers ein zweites Mal in Weimar zur Aufführung kam, war der Beifall nur gedämpft: Zu sperrig war die Botschaft der Toleranz zwischen den Religionen in einem Land und einer Zeit, in der die Traumata der „Türkenkriege“ noch präsent waren und Antisemitismus Allgemeingut war.

Erst nach und nach setzte sich das Drama der „Ringparabel“ auf den deutschen Bühnen durch. Seitdem hat das Stück als Seismograf der Toleranz im Lande fungiert: Die Nazis verboten nach ihrer Machtübernahme 1933 bis zu ihrem Ende 1945 die Inszenierung des „Nathan“. Aufführen durfte das Stück in der NS-Zeit lediglich der Jüdische Kulturbund in Berlin: Der (Zwangs-)Zusammenschluss jüdischer Künstler inszenierte den Klassiker noch unter widrigsten Bedingungen – bis der Kulturbund 1941 aufgelöst wurde und viele seiner Protagonisten im KZ ermordet wurden.

Der „Nathan“ ist nach dem 11. September wieder ganz heißer Stoff auf den Bühnen

Und was war das erste Stück, das das Deutsche Theater in Mitte nach dem Krieg 1945 inszenierte? Der „Nathan“ natürlich, allerdings mit einem zweifelhaften Beigeschmack: Der Regisseur war der jüdische KZ-Überlebende Fritz Wisten, sein Nathan Paul Wegener, den Kenner noch aus Nazipropagandafilmen wie „Kolberg“ in Erinnerung hatten. Die Nachkriegszeit erlebte geradezu eine Epidemie an Aufführungen – und zu Recht ist in dieser Renaissance des Klassikers viel Verlogenes entdeckt worden. Denn so einen Juden wie Nathan wünschte man sich im Volk der Richter und Henker: einen, der, obwohl ihm Christen die ganze Familie hinweggemordet haben, ein christliches Mädchen wie sein eigenes Kind erzieht, vor dem muslimischen und recht brutalen Herrscher Saladin das Hohelied der Toleranz und Gleichheit der Religionen singt – und auch noch bereit ist, diese einzige Tochter einem christlichen Tempelritter herzuschenken (wenn der sich nicht am Ende als ihr Bruder herausstellen würde).

Wohl auch weil er diese Verlogenheit früherer Inszenierungen bedachte, brachte Peymann den „Nathan“ schon 1981 im Bochumer Schauspielhaus vor allem als heiteres, märchenhaftes Stück auf die Bühne – George Tabori arbeitete das Drama 1991 in Braunschweig zu einem düsteren Werk um, dessen Titel bereits alles sagt: „Nathans Tod“.

Wenn Peymann heute den Klassiker erneut zur Diskussion stellt, wird es deshalb auf etwas ankommen, was auch für den „Dialog der Religionen“ zentral ist: Ehrlichkeit. Ist der Tempelritter wirklich kein Judenfeind mehr? Ist Saladin tolerant geworden, weil der Jude ihm ein schönes Märchen erzählt hat, seine Nichte jüdisch erzogen wurde und sich herausstellt, dass der Tempelritter sein Neffe ist? Und ist am Ende nicht Nathan der, der als Einziger allein zurückbleibt? Das Stück Lessings wie der „Dialog der Religionen“ sind schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint. Wenn Peymann davon weiß, dürfte das heute ein aufregender Premierenabend werden.