Der Helfer, der nicht aufgibt

„Deutsche Muslime können Deutschland in islamischen Län-dern repräsentieren“

von BARBARA KERNECK

Der Herr mit dem vanillefarbenen Teint strahlt Bedeutsamkeit aus. Er sagt nichts, selten misst er die anderen mit einem Rabenblick. Die anderen, das sind Journalisten und Mitarbeiter internationaler Organisationen, die an diesem Abend in Moskau bei einem Abendessen eingeladen sind. Neben dem schweigsamen Herrn sitzt Heinz Bitsch, Mitarbeiter der von deutschen Bundestagsabgeordneten gegründeten Vereinigung „Help“. Er bereitet sich auf einen Hilfseinsatz bei tschetschenischen Flüchtlingen in Inguschetien vor und berichtet von seinem Vorhaben. Er und die anderen schauen oft rückversichernd zu dem reservierten Herrn hin, als hinge das Hilfsprojekt von ihm ab.

Ein hoch gestellter Beamter? Einer der wenigen aus den südlichsten Unionsrepubliken der einstigen Sowjetunion, die es bis ins Zentrum geschafft hatten? Als der Mann sich doch einmal äußert, spricht er fließendes, leicht exotisch gefärbtes Deutsch. „Deutscher“, antwortet er knapp auf die Frage nach seiner Herkunft. Und stellt sich mit unerwartetem Zwinkern vor: „Isa Al, deutscher Staatsbürger türkischer Herkunft. Ich vertrete hier die Neue Internationale Osmanische Hilfe e. V. und fahre mit Help zusammen nach Inguschetien.“

Später am Abend, als die Runde auftaut und mehr gelacht wird, lacht auch er mit, vorsichtig, als fürchte er, jemand unter den Anwesenden könne durch einen der Scherze gekränkt werden. Nebenbei erzählt er seine Geschichte.

Seine Helferlaufbahn begann der heutige Vorsitzende eines Lohnsteuerhilfevereins in Duisburg-Meiderich in den 80er-Jahren. Als Schlosser bei der Thyssen Stahl AG trat er der IG Metall bei, beteiligte sich an allerlei Hilfsaktionen für Nicaragua und war schließlich als einziger Ausländer Vertrauensmann der Gewerkschaft im Unternehmen. Die ihm zu Ohren gekommenen Fälle von Diskriminierung ausländischer Kollegen bei Thyssen vergifteten ihm das Leben. Dass Fass lief 1997 über, als Deutsche einen älteren türkischen Arbeiter erst damit neckten, dass sie Knallkörper unter seinem Stuhl explodieren ließen, und ihm dann „spielerisch“ eine Schlinge um den Hals legten. „Der Mann hat fast einen Herzinfarkt erlitten“, berichtet Al. „Aber als ich dann von den Vorgesetzten forderte, den Schuldigen eine schriftliche Abmahnung zukommen zu lassen, war ihnen der Vorfall dafür nicht relevant genug. Da hab ich die Brocken hingeschmissen.“ Wenn er sich in Rage redet, spricht dieser Exmetaller wie seine Kumpel bei Thyssen.

„Das hab ich hingekriegt“, sagt er drei Tage nach diesem Treffen. Wir sitzen in seinem kleinen Zimmer im Hotel Rossija am Roten Platz zwischen Kunstholzfurnieren. Der Raum ist weder behaglich noch ruhig zu nennen, aber für komfortable Unterkünfte, so meint der deutsche Türke, seien seine für die Tschetschenienhilfe gesammelten Mittel auch nicht gedacht. Auf seinen Wangen sprießt dichter, dunkler Flaum. Al trägt gewöhnlich einen Bart. Den rasiert er sich vor jedem Inguschetienbesuch ab, um von den russischen Posten nicht für einen Tschetschenen gehalten zu werden. „Hingekriegt“ hatte er diesmal einen Vorstoß von der inguschetischen Hauptstadt Nasran aus in die tschetschenische Hauptstadt Grosny, wo die Organisationen Help und Osmanische Hilfe unter den Argusaugen und Kalaschnikows ihrer Leibwächter drei Stunden lang einen Teil von 12.000 gemeinsam finanzierten Lebensmittelpaketen verteilten. Gelungen war ihnen die Fahrt erst beim zweiten Anlauf. Beim ersten Versuch hatte ein russischer Straßenposten Al zurückgewiesen, offenbar weil er eben doch zu tschetschenisch aussah.

An Kriegsschauplätze hat sich Al noch immer nicht gewöhnt. Den ersten erblickte er 1994 in Bosnien. Dorthin war er gefahren, um sich mit eigenen Augen von der humanitären Situation zu überzeugen, und dort gründete er auch seinen Verein. Auf den Namen „Osmanische Hilfe“ hatten ihn die Frauen in Srebrenica gebracht, die ihm vorwarfen: „Ihr Türken habt uns zu Muslimen gemacht, und jetzt lasst ihr uns in Stich.“ Einige Jahre nach den Zeitungsmeldungen aus Bosnien rüttelten ihn diejenigen aus Tschetschenien erneut auf. Er musste handeln: „Die brauchen doch Hilfe, dort unten.“ Als Initialzündung wollte er während des Opferfestes im Jahre 2000 dort Hammel schlachten lassen. Einige Muslime hatten ihm nämlich dafür Spenden angeboten. Ihr Argument: „Wir brauchen hier kein zusätzliches Fleisch. Lasst uns lieber für Menschen schlachten, die wirklich hungern.“

Vor seinen ersten Versuchen, nach Inguschetien zu reisen, entwickelte Isa Al die Hartnäckigkeit eines Käfers, der sich immer wieder aufrappelt, wenn er auf den Rücken gelegt wird. Dabei half dem Vater eines zwölfjährigen Sohns auch die Unterstützung seiner Familie, wie er erzählt. Große internationale Hilfsorganisationen, selbst islamische Vereine, dazu das deutsche Außenministerium rieten ihm angesichts der Gewalttätigkeit und der zahlreichen Entführungen in der Region von der Reise ab. Zudem war Al 1999 an Krebs erkrankt und musste nun bestrahlt werden. „Ich fühlte mich miserabel und hätte fast den ganzen Plan fallen gelassen“, erzählt er. Dem Helfer, der sich in Moskau mit dem Lachen so schwer tat, kommen die Tränen, als er berichtet, was ihn zum Durchhalten bewegte.

Nicht nur die heilige Johanna von Orleans, Alexander von Mazedonien und australische Aborigines kennen schicksalsentscheidende Traumgesichte, auch Isa Al wurde eines zuteil: „Ich sah im Traum eine Nachtigall, und die sagte: Was glaubst du, dass du bist? Wer, glaubst du, hat dir diese Krankheit gegeben? Glaubst du, dass du dich dich selbst heilen kannst?“ Für den Meidericher Steuerexperten gab es keinen Zweifel, wie er diesen Traum zu interpretieren hatte: „Der Vogel bedeutete mir, dass mir die Krankheit von Gott gegeben war und dass ich mich nur durch gottgefällige Werke von ihr erlösen konnte.“ Also auf nach Inguschetien! Für seinen ersten Trip dorthin im April 2000 konnte Al 200.000 Mark zusammenkratzen, zum Beispiel bei alten Bekannten aus seiner Metallerzeit, bei Mitgliedern seines Lohnsteuerhilfevereins und des internationalen türkischen Arbeitgeberverbandes. Als er im April 2000 tatsächlich in der inguschetischen Hauptstadt Nasran ankam, waren es bis zum Opferfest noch vier Tage, und der Spenderauftrag lautete, 750 Opfertiere schlachten zu lassen. „Das war kaum zu bewältigen“, erinnert sich Al, „aber dann haben wir auch das hinbekommen.“

Alle rieten ab: Hilfsorganisationen, islamische Vereine, Außenministerium

Als der Exmetaller seine Geschichte erzählt hat – ausführlich, aber nicht geschwätzig –, kramt er zuvorkommend aus einem schwarzen Musterköfferchen Logos für einen neuen Namen seines Vereins. „Globale Hilfe“ wolle er ihn bald nennen, denn überhaupt sei ihm wichtig, auch in christlichen Ländern, zum Beispiel in Armenien, zu helfen. „Na, war das gute PR-Arbeit?“, fragt er abschließend mit dem leisen Anflug von Selbstironie, mit dem er sich anfangs als „Deutscher“ vorgestellt hatte. Auf die Antwort „Absolut professionell!“ strahlt er vor Freude.

Das war im Sommer letzten Jahres. Was er damals in Tschetschenien gesehen hat, hat Isa Al psychisch stark mitgenommen. Er habe danach noch über einen Monat gebraucht, um wieder zu sich zu kommen, erzählt er dieser Tage: „Die Zerstörungen und die Freiheitsbeschränkungen dort unten übertreffen alles, was ich in Bosnien erlebt habe.“ Er wolle sich nicht in die Politik einmischen, erklärt er, aber eines müsse er festhalten: „Die Tschetschenen, die ich getroffen habe, waren bestimmt keine Terroristen. Ich weiß nur, dass dieses kleine Einmillionenvolk seit über hundert Jahren für seine Freiheit kämpft und jetzt ums nackte Überleben. Was dort unten passiert, ist eine Schande für die ganze Menschheit.“

Für die Zukunft nach dem 11. September hat Isa Al einen Vorschlag: „Anstatt alle Muslime des Terrorismus zu verdächtigen, sollten die Deutschen sich darüber klar werden, dass sie gegenüber der islamischen Welt über zwei gewaltige Pluspunkte verfügen. Erstens haben sie kaum koloniales Erbe zu verdauen, und zweitens reichlich viele Muslime im eigenen Lande. Die deutsche Regierung unterstützt Hilfsprojekte in vielen islamischen Staaten, ohne dies an die große Glocke zu hängen. Wer könnte Deutschland dort besser repräsentieren als wir deutschen Muslime?“

Selbst in Afghanistan zu helfen, hält er vorerst nicht für möglich. Er möchte das in der Russischen Föderation Begonnene zu Ende führen. Diesen Winter haben die Neue Internationale Osmanische Hilfe und Help Decken und Matratzen für 15.000 Menschen gespendet, die in Inguschetien in Camps und Ställen übernachten. Doch sein Lieblingsprojekt ist Isa Al noch nicht gelungen: eine permanente warme Schulspeisung für 2.000 Kinder zu organisieren. Die Sammlungen unter den Mitgliedern seines Lohnsteuerhilfevereins und in Moscheen während des Ramadan haben 10.000 Euro erbracht. Das sei viel angesichts der akuten Konkurrenz unter den Hilfsorganisationen, aber nur ein Zehntel der benötigten Summe, berichtet Al. Doch er meint: „Irgendwie werden wir auch das hinkriegen.“