Der Traum ist aus

Nicht zu glauben, dass dahinter keine Absicht steckt: Claus Peymann zeichnet im Berliner Ensemble mit seinem neuen „Nathan der Weise“ grobe Figuren und lässt die dramaturgischen Wendemanöver Lessings krachen und quietschen

Natürlich war Claus Peymann selber schuld, dass die Kritiker wie Geier auf ihren Plätzen im Parkett saßen. Denn kaum waren die Türme des World Trade Centers eingestürzt, da hatte Peymann der Welt eine Peymann-Inszenierung des Toleranz-Klassikers verordnet. Die berühmte Ring-Parabel, mit der der Jude Nathan auf die gefährliche Frage des muslimischen Sultans Saladin nach der einzig richtigen Religion pariert, könnte man schließlich auch den religiösen Fundamentalisten von heute ins Poesiealbum schreiben. Möglicherweise aber überschätzt das Theater seine Bedeutung für die Erziehung des Menschen gehörig.

So hebt sich dann also nach einem ziemlich dissonanten Akkord der Vorhang, und man blickt auf eine völlig leer geräumte Bühne. Angesichts dieses schwarzen Lochs schiebt sich vors innere Auge gleich der strahlend weiße Guckkasten, den Karl-Ernst Herrmann vor zwanzig Jahren in Bochum baute, wo Peymann den Nathan schon einmal inszenierte. Palmen und Giraffen waren damals aus dem Bühnenboden gewachsen, und Lessings Toleranz-Traumwelt wurde von edlen Gestalten bevölkert, die Regisseur Peymann ins milde Licht der Ironie getaucht hatte: der Traum von der friedlichen Koexistenz der Weltreligionen als federleichte Komödie, womit Peymann einerseits das utopische Potenzial dieses Entwurfs, aber auch seine Vergeblichkeit wunderbar zum Leuchten brachte.

Im Berlin des Jahres 2002 kann davon keine Rede mehr sein. Schon die erste Szene überrascht durch Einfachheit. Nathan kommt von einer Geschäftsreise zurück und muss von der Erzieherin seiner Tochter Recha hören, dass die nur knapp dem Feuertod entrann. Händeringend und augenrollend spielen Carmen-Maja Antoni (Daja) und Peter Fitz (Nathan) ihre Parts, und durch die Kritikerreihen geht ein Stöhnen. So hatte man sich den ersten Auftritt des Hoffnungsträgers Nathan nicht vorgestellt.

Aber es kommt noch schlimmer, als Tochter Recha (Anna Böger) zum ersten Mal die Szene betritt: ein walkürenhafter, blonder Trampel, die Vater Nathan um Haupteslänge überragt. Jede Umarmung dieser Riesin könnte zu ernsthaften Verletzungen führen. Zu allem Überfluss trägt Recha ein Kinderkleidchen, das dieses Riesenbaby erst recht grotesk aussehen lässt.

Der christliche Tempelherr (Markus Meyer), der Recha aus dem Feuer rettete, ist ebenfalls reichlich grob gezeichnet: ein zur Gewalt neigender junger Mann mit Topfhaarschnitt, den man sich auch als Römer in einem Asterix-Heft vorstellen könnte. Sultan Saladin, der die dritte Weltreligion repräsentiert: ein alberner Mensch in Yves-Klein-blauen Schuhen, mit Turban, angemaltem Schnurbart und schwarzer Pluderhose. Das Publikum gluckst, manchmal lacht es sogar, weil die ganze Geschichte samt den Figuren, die sie verkörpern, wirklich wahnsinnig komisch ist. Die dramturgischen Wendemanöver Lessings, mit denen er doch recht gewaltsam sein Happyend herbeiführt: Peymann lässt sie krachen und quietschen, als wären die Brüder Schönthan und nicht Lessing die Urheber des Dramas.

Die Wiener Brüder schrieben vor etwa hundertfünfzig Jahren die berühmte Schmierenkomödie „Der Raub der Sabinerinnen“. Dort inszeniert ein Schmierentheaterdirektor namens Striese ein schaurig schlechtes Römerdrama, und zwar so komisch, dass es sogar den strengen Alfred Kerr einst vor Lachen vom Sitz gerissen hat. Seitdem ist Striese Synonym für schlechte Stücke und deren Regisseure. Peymann macht sich zum Striese Lessings, und man soll nicht glauben, dass dahinter keine Absicht steckt.

Krasser nämlich kann man gar nicht zum Ausdruck bringen, dass Lessings Toleranz-Traum angesichts des Laufs der Weltgeschichte ziemlich abgewirtschaftet hat. Nachdem sich die Beteiligten allseitig in die Arme gefallen sind und nur Nathan einsam zurückbleibt, schließt sich der Vorhang, um sich kurz darauf noch einmal zu öffnen. Die Bühne ist leer. Aus leuchtenden Schächten steigt Rauch auf und verbreitet einen Hauch von Ground-Zero-Atmosphäre. Peymann hat der Deutschen liebstes Stück verhunzt und vorgeführt. Die Kritiker werden ihn dafür prügeln. ESTHER SLEVOGT

Nächste Termine: 12. 1.: 19.30 Uhr, 13. 1.: 17 Uhr, im Berliner Ensemble, Am Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte