Die Einwanderungsstadt

Unsere Städte verändern sich und suchen eine neue Balance zwischen „Leitkultur“ und ethnischer Vielfalt. Heute geht es darum, die Spannung zwischen Harmoniesehnsucht und heterogener Realität neu zu organisieren. Eine Betrachtung

Das Türkenviertel als ein Betriebs-unfall unserer Stadtentwicklung?

von HARTMUT HÄUSSERMANN

Als am Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA Großstädte durch Einwanderung entstanden, gab es keinen Streit um eine „Leitkultur“ oder über die „Gefahr einer Überfremdung“. Alle waren fremd. Davon, wie die zukünftige gemeinsame Kultur aussehen würde, gab es noch keine Vorstellung. Dies waren offene Städte – aber wie heute beherrschte auch damals die Sorge über einen moralischen Verfall die gesellschaftspolitische Diskussion. Wo es keine verbindlichen Normen und keine ordnungssichernden Sitten gibt, muss doch das Chaos ausbrechen!

Immer wenn althergebrachte Ordnungen in Frage gestellt werden, entsteht eine Neigung zur Regression. Früher war vielleicht nicht alles gut, aber es war doch besser – diese Überzeugung breitet sich dann gern aus. Das gilt auch für die vorherrschenden Meinungen darüber, wie unsere Städte in der Zukunft organisiert sein sollen. Die Bevölkerungsprognosen zeigen, dass in vielen unserer Großstädte der Anteil der Zuwanderer an der Bevölkerung sich in wenigen Jahrzehnten auf 40 bis 50 Prozent erhöhen muss, wenn man nicht einen drastischen Rückgang der Bevölkerungszahl in Kauf nehmen will. Wie werden die Stadtteile dann aussehen? Sicher wird es große Quartiere geben, in denen kaum noch Angehörige der deutschstämmigen Bevölkerung leben. Und dann wird das eingetreten sein, was nach allgemeiner Überzeugung nie hätte eintreten dürfen: eine ethnische Strukturierung unserer Städte.

Zwar kennt heute jede größere (west)deutsche Stadt bereits ihr Türkenviertel, aber das wird eher als ein Betriebsunfall der Stadtentwicklung betrachtet und behandelt – zumindest gilt es Anzeichen für eine misslungene Integration. Gelungene Integration – das wäre dann der Fall, wenn die Zuwanderer unsichtbar geworden wären und sich unauffällig unter die Träger der Leitkultur gemischt hätten. In der Mitte unserer Städte entstehen aber neue Städte, die die alteuropäische Stadtkultur aus den Angeln heben werden. Die ethnisch homogene, sozial gemischte Stadt ist zu einem illusionären Leitbild geworden, das die Entwicklung einer neuen Stadtstruktur be-, aber nicht verhindern kann.

Diese neuen Städte sind voll Energie. Zwar wird diese Energie durch Ausländerrecht, zünftlerische Gewerbeordnungen und spießige Ordnungsvorstellungen gefesselt, aber unsere Städte profitieren doch an entscheidenden Stellen davon.

Was wäre mit unseren Gründerzeitquartieren geschehen, wenn sie nicht durch die Kraft der Zuwanderungskulturen vor der Zerstörung bewahrt worden wären? Wo wären urbane Qualitäten noch zu finden, wenn Aldi und Tengelmann den Einzelhandel allein organisieren dürften? Und auch unsere Hochkultur wird sich nicht ewig aus dem Erbe von Richard Wagner und Albrecht Dürer ernähren können – die Metakultur der zweiten und dritten Zuwanderungsgeneration macht ihren Einfluss allenthalben bemerkbar.

In den Nischen und an den Rändern der Stadt und unserer Kultur kann die Innovation entstehen, die eine schwächelnde Zivilisation immer braucht. Aber auch die Zuwanderer und ihre Nachfolgegenerationen sind keine Magier, die permanent aus ethnischen Ressourcen schöpfen und ihre Potenziale gegen eine feindliche Umwelt entwickeln können. Auch sie brauchen das Mindestmaß von Handlungsrahmen und von Unterstützung, das für die übrige Bevölkerung selbstverständlich ist.

Die Einwandererviertel in unseren Städten sind keine vorübergehende Erscheinung und auch keine Fehlentwicklungen. Auf sie wird die Mehrheit der Stadtbewohner immer ambivalent reagieren. Die Stadt wird als bunt und chaotisch zugleich wahrgenommen, die fremden Kulturen werden als Innovation und als Bedrohung empfunden, und man begegnet ihnen mit Neugier ebenso wie mit Angst. Diese Spannung ist nur zu organisieren, indem man Distanzen zulässt und nicht „Mischung“ erzwingt. Schutz und Rückzug vor dem Fremden sind ebenso legitime Bedürfnisse wie die Interaktion und die Konfrontation. Das ist keine Frage der Moral, sondern der Sicherung der eigenen Identität. Nur wenn es gelingt, die Spannung zwischen Harmoniesehnsucht und heterogener Realität auch stadtstrukturell zu organisieren, werden unsere Städte im wahrsten Sinne des Wortes „spannend“ bleiben. Und darin liegt ihre wahre, vielleicht ihre einzige Chance.