: Spurensuche auf dem Gottesacker
von PHILIPP GESSLER
Wie bereitet man einen „Petersiliensalat aus Palästina“ zu? Wo findet der Chorabend mit Musik von Joseph Haydn statt? Solche Fragen sind es, die der „St.-Jacobi-Bote“ normalerweise beantwortet. Aber diesmal war es eine kirchengeschichtliche Sensation, die sich zwischen den Nachrichten aus der evangelischen Gemeinde in Berlin-Kreuzberg versteckte. Unter der harmlosen Überschrift „Aus dem Archiv“ erinnerte eine Mitarbeiterin des Blättchens auf acht Seiten an das Zwangsarbeiterlager, das die Kirche vom Herbst 1942 bis zum Kriegsende 1945 auf einem Friedhof in Neukölln betrieb.
Bereits im Mai 1995 war dieser Artikel erschienen – doch es bedurfte erst der bundesweiten Debatte um die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern, bis sich die Kirche auch offiziell auf diesen Teil ihrer Geschichte besann. Im Juli 2000, ein halbes Jahrzehnt nach der ersten Veröffentlichung, setzte die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg eine Arbeitsgruppe ein. Sie soll den Komplex „Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie“ erforschen. Unterstützt von zehn ABM-Kräften, wühlt sich der Pfarrer und Religionswissenschafter Lorenz Wilkens durch die Gemeindearchive. Der 58-Jährige will eine Geschichte wieder ans Tageslicht bringen, die „beschämend“ ist, wie er sagt. „Die Kirche muss Buße tun“, fordert er gut protestantisch. Nicht allein dafür, dass sie über die Zwangsarbeit am nationalsozialistischen Unterdrückungsapparat beteiligt war. Auch für die Tatsache, dass sie das Thema so lange verdrängte.
Jetzt steht Wilkens auf einer Brache in der hintersten Ecke des „5. Friedhofs der Jerusalems- und Neuen Gemeinde“ in Berlin. „Richtiges Friedhofswetter“, murmelt er. Es ist kalt und regnet ausdauernd. Nichts deutet mehr darauf hin, dass die Kirche hier vor Jahrzehnten Zwangsarbeiter in ein Lager gepfercht hatte und für sich schuften ließ. Überall wuchert kniehoch braun gewordenes Unkraut. Hinter einem Erdhügel türmen sich Dutzende ausgediente Grabsteine, etwas Müll liegt herum. Fast zum Greifen nah erscheinen die Flugzeuge, die ohrenbetäubend laut über dem Friedhof zur Landung auf dem Zentralflughafen Tempelhof ansetzen. Den Höllenlärm der Flieger, sagt Wilkens, den habe es schon damals gegeben.
Ab Oktober 1942, so fand die kirchliche Arbeitsgruppe heraus, lebten in zwei eigens von der Kirche erstellten Baracken im Schnitt 85 Zwangsarbeiter. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, auf 36 Friedhöfen der Hauptstadt Tote zu begraben. Wie ein interner Kirchenbericht aus dem Jahr 1943 feststellte, bildete das Beerdigungswesen „die ausschlaggebende finanzielle Grundlage“ der Kirchengemeinden. Da aber viele Männer im Krieg waren, fehlte es an Arbeitskräften, die diese lukrative Arbeit übernehmen konnten. So kam man in der Kirchenhierarchie darauf, Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten Osteuropas anzufordern – so genannte Ostarbeiter. „Die Verwendung der ausländischen Arbeitskräfte“ habe sich für die Gemeinden als „segensreich und sehr nutzbringend“ erwiesen, hieß es in bestem Christendeutsch. Zur Verwaltung des Lagers wurde eigens eine „Arbeitsgemeinschaft für die ausländischen Arbeiter auf Berliner Friedhöfen“ gebildet.
Die oft jugendlichen „Ostarbeiter“ der Kirche wurden wie die deportierten Juden in Viehwaggons gezwungen und in mehr als einwöchigen Transporten nach Berlin gebracht. Die Baracken waren mit Stacheldraht umzäunt, bewacht wurden die Zwangsarbeiter von zwei Angestellten der Kirche. Die Arbeiter mussten ab acht Uhr morgens zwölf Stunden lang in den verschiedenen Friedhöfen der „Arbeitsgemeinschaft“ Gräber ausheben – schwere körperliche Arbeit, die zum Teil bleibende Schäden hinterließ. So erlitt der ukrainische Zwangsarbeiter Michael Iwaschtschenko zweimal einen Leistenbruch, der kaum behandelt wurde und ihn noch heute plagt. Der ebenfalls aus der Ukraine stammende Dimitrij Sadirko wurde nach einer missglückten Flucht in ein noch härteres Arbeitsumerziehungslager gebracht, von dort kam er dann ins Konzentrationslager Sachsenhausen.
Mitte März 1945, wenige Wochen vor Kriegsende, wollte der Lagerleiter fünf ältere Kirchen-Zwangsarbeiter loswerden, drei von ihnen litten an Knochenbrüchen. Er drang beim Arbeitsamt darauf, sie möglichst schnell in eine „Sammelstelle“ zu bringen. Nach Ansicht der Soziologin und Wilkens-Mitarbeiterin Gerlind Lachenicht gibt es Hinweise, dass solche „Sammelstellen“ de facto Todeslagern glichen.
Anders als die Sklavenarbeiter im KZ erhielten die „Ostarbeiter“ der Kirche zwar einen Lohn. Davon wurden ihnen meist aber fast alles für Essen und Unterbringung abgezogen. Das Lageressen bestand aus 250 Gramm Brot am Tag, einem Teelöffel Margarine und einer Wassersuppe, oft aus Steckrüben. „Der laufende Betrieb“, so stellte der kircheninterne Bericht lapidar fest, „trägt sich.“
Die Internierten waren meist völlig isoliert und rechtlos. Sie wurden von den kirchlichen Aufsehern ständig beschimpft. Von einem christlichen Umgang mit ihnen könne nicht die Rede sein, sagt Wilkens. Außer, dass der Gottesdienstbesuch angeraten wurde– auch als Erholungsmöglichkeit.
Ständiger Hunger, fehlende Hygiene und Schlafmangel zehrten die kirchlichen Zwangsarbeiter auf. Sie litten wegen der Nachbarschaft zum Flughafen an häufigen Bombenangriffen, zumal sie nicht in normalen Luftschutzbunkern Schutz suchen durften. Für sie gab es nur einen 40 Meter langen „Splittergraben“. Überlebende Zwangsarbeiter erzählen, dass bei einem Bombenangriff glühender Phosphor in den Grube geflossen sei. Bomben, die ihr Ziel verfehlten, schlugen in Gräbern ein. Zwangsarbeiter berichten von Leichenteilen, die sie von Bäumen herunterholen mussten. Wilkens geht davon aus, dass ein Teil der „Ostarbeiter“ diese physische und psychische Tortur nicht überlebte.
Doch gab es in den Gremien der Kirche wenigstens Diskussionen über das „Barackenlager“, wie es intern genannt wurde? In den Akten fänden sich keine Hinweise auf ein schlechtes Gewissen bei den Verantwortlichen, sagt Wilkens. Es habe „so gut wie kein Unrechtsbewusstsein“ gegeben – auch nicht bei Mitgliedern der „bekennenden Kirche“: Der Lagerverwalter Gustav Weniger gehörte der oppositionellen Gruppierung sogar an.
Auch nach Kriegsende regte sich in der Kirche keine übermäßigee Sündenpein. Im Gegenteil. Die Gemeinden stritten sich über ihren Anteil an den Baukosten für das Lager, den die Kirchenleitung während des Krieges ausgelegt hatte. Erst seit dem vergangenen Sommer reisten Wilkens und seine Mitarbeiter in die Ukraine, besuchten ehemalige Zwangsarbeiter und übergaben ihnen als Geste 1.750 Euro pro Person – zusätzlich zu den 650 Euro, die die ukrainischen Partnerorganisationen der Bundesstiftung in der Regel zahlen. Von einer „Wiedergutmachung“ für ihre durchschnittlich 30 Monate Schufterei im Kirchenlager könne bei diesem Betrag natürlich keine Rede sein, räumt Wilkens ein.
So lange Stalin in der Sowjetunion herrschte, mussten die Zwangsarbeiter meist auch nach dem Krieg ihre Ausbeutung durch den Feind verschweigen. Deshalb hatten sie Schwierigkeiten beim Berufseinstieg, viele von ihnen bekommen heute eine Rente von umgerechnet nur 15 Euro im Monat. Manche müssen regelrecht hungern, viele sind krank.
In winzigen Büros des Kirchenkonsistoriums arbeitet Wilkens’ Arbeitsgruppe daran, die Überlebenden der kirchlichen Ausbeutung zu ermitteln. Trotz intensiver Recherche hat sie erst acht ehemalige Zwangsarbeiter ausfindig machen können. Die Liste der Namen füllt gerade eine halbe DIN-A4-Seite – doch für die Mitarbeiter sind es mehr als nur Namen. Sie öffneten vor Freude eine Flasche Sekt, als die Bundesstiftung „ihrem“ Zwangsarbeiter Sadirko den höchsten Entschädigungssatz von 15.000 Mark zusprach.
Viele „Ostarbeiter“ im Lager der Kirche waren getauft, manche beteten jeden Abend. Einer von ihnen war Wassilij Kudrenko, der trotz allem sagt, die Kirche trage an seinem Leid doch keine Schuld.
Wilkens erwartet, dass die Kirche bald eine Gedenktafel an der Stelle anbringen wird, wo das Friedhofslager stand. Er hofft, dass sich Gemeinden finden, die so etwas wie Patenschaften für die Zwangsarbeiter und ihre Angehörigen übernehmen – um ihnen zu schreiben oder Pakete zu schicken. Und in diesem Sommer soll einer der kirchlichen „Ostarbeiter“ zu Besuch nach Berlin kommen. Wenn er dazu noch in der Lage ist.
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