Schlaflosigkeit im Stadttheater

■ Das Bremerhavener Ballett bietet Glenn-Gould-freie Goldberg-Variationen: Ein weich fließender Tanz, der der Musik allerdings nur wenig entgegensetzt

Der Mann hat Mut. Mit einem Bach-Programm hatte sich der neue Ballett-Chef Jörg Mannes vor eineinhalb Jahren in Bremerhaven vorgestellt („www.bach.de“). Nach mehreren Produktionen, in denen er sein Talent zum erzählerischen Tanztheater (Cinderella, Der Glöckner von Notre-Dame) bewiesen hat, kehrt er noch einmal zu Bach zurück.

„Goldberg - Das Ballett“ nennt er schlicht und selbstbewusst seine Choreografie zu der anspruchsvollen Variationenfolge, die Johann Sebastian Bach als Auftragswerk für den Grafen Keyserling geschrieben hatte, der unter Schlaflosigkeit litt und Musik zu seiner Ablenkung benötigte. Sein „Hofpianist“ Goldberg musste ihm mit Bachs „Clavier-Übungen“ die Nächte versüßen.

Mannes geht ein Wagnis ein, denn diese Musik – eine Arie und 30 Variationen – erzählt keine Geschichte und jede tänzerische Illustration müsste an der puren Intensität der musikalischen Strukturen scheitern. Mannes verzichtet deshalb auf jede Andeutung einer Erzählung, er lässt die Körper der Tanzenden sprechen. Sechs Frauen und vier Männer entwickeln Tableaus, Abläufe, symmetrische Figuren und Auflösungen.

In wechselnden Gruppen, in Paaren, Trios, Quartetten, zu sechst oder zehnt, lässt er Bewegungen erkunden, die der strengen musikalischen Form folgen und mehrere Grundmuster immer wieder variieren. Die TänzerInnen – schwarz gekleidet, lange Ärmel, lange Hosen – bewegen sich im offen gehaltenen Raum des Großen Hauses, der den Blick auf Lichtzüge und das gesamte Apparategerüst im Hintergrund freigibt.

Ein Übungsraum also, jede Variation mit einem dezenten Lichtwechsel gekennzeichnet, im Hintergrund der Flügel: Der junge kanadische Pianist Marc Pierre Toth – zur Zeit an der Musikhochschule Hannover in einer Meisterklasse – ist eine Entdeckung. Er spielt die Goldberg-Variationen ebenso frisch und virtuos wie empfindsam und durchdacht. Er verweigert jeden Hinweis auf Glenn Gould und fällt doch nicht in verstaubte Strenge zurück. Mannes entwickelt dazu einen weichen, fließenden Tanzstil, eine Erkundung der Beweglichkeit des Körpers, die an Sascha Waltz' Berliner Arbeit erinnert.

Die Körper werden geschoben, gedreht, gehoben, sie verschlingen sich, lösen sich voneinander, gehen eigene Wege und finden wieder zueinander. Immer wieder gehen sie zu Boden, als würden sie die Balance verlieren, um immer erneut gehen zu können. Das Schreiten und Gehen ist ein Grundprinzip dieser Übungen, in denen jede Kommunikation zwischen den Partnern fast beiläufig geschieht. So entstehen in der permanenten Beweglichkeit schöne Bilder, deren Ruhe und Gelassenheit die Schönheit der Musik unterstreicht.

Aber darin liegt auch ein Problem: Jörg Mannes folgt dem Fluss der Musik, ohne ihm je irgendetwas entgegenzusetzen – nur ein einziges Mal, wenn die TänzerInnen ihre Bewegungen beginnen und der Pianist später einsetzt, bricht er sie auf. So droht der Tanz an Spannung zu verlieren, weil er zu wenig Eigengewicht besitzt. Um dekorative Figuren zu vermeiden, wäre weniger Respekt vor Bach mehr gewesen. Jörg Mannes mutiger Ansatz sollte noch weiter entwickelt werden.

Trotzdem großer Beifall und einhellige Bravorufe für alle Beteiligten. Das Stadttheater weist mit diesem kurzfristig geplanten Extra-Programm auf die neue Schauspielproduktion hin, das provozierende Tabori-Stück „Goldberg-Variationen“, das im Februar Premiere hat. Am Stadttheater weht ein frischer Wind, das ist auch Jörg Mannes zu verdanken.

Hans Happel

Insgesamt wird es nur vier weitere Vorstellungen geben: am 13. und 17. Januar sowie 10. und 17. Februar (jeweils 20.00 Uhr). Karten gibt es unter Telefon (0471) 49 001