straight aus dem medienpark
alltagsspiegelung in der berliner abendschau
: Du bist nicht allein

Morgens verlässt man das Haus, rutscht vor der Tür auf dem Blitzeis aus, wartet frierend auf den Bus. Immer dieselben Ampeln auf dem Weg zur Arbeit, abends dieselben Ampeln auf dem Weg nach Hause. Man wird vom Schneegestöber weggeweht, kommt traurig in die kalte Wohnung zurück und macht den Fernseher an. Und was ist es, das zur Rettung eilt vor Abschottung und Einsamkeit? Die Berliner Abendschau.

Im wichtigsten Nachrichtenmagazin der Stadt, der einschaltstärksten Sendung des SFB – das Durchschnittsalter der Zuschauer liegt bei 60 Jahren oder mehr –, erfährt man: Heute sind die Berliner auf dem Blitzeis ausgerutscht und wurden vom Schneegestöber weggeweht. Die Abendschau verdoppelt prompt, was tags so war, und macht aus dem eigenen Alltag eine kollektive Geschichte, die man sich aneignen kann. Sie sagt dem geplagten Ich: Du bist nicht allein.

Erster Tag. Cathrin Böhme, eine der wasserstoffgefärbten Moderatorinnen, die sich schokobraun gesund schminken und dazu bevorzugt billige Blazer tragen, eröffnet die Abendschau mit einem hübsch ausgedachten Reim: „Es bibbert der Mensch, es zittert der Vierbeiner.“ Ein ellenlanger Beitrag von Reporter Ulli Zelle führt dies dann aus: mit O-Tönen von Kutterkapitänen, die die Kohlen holen, mit Wasserschutzpolizisten wegen der Einbruchgefahr auf den Berliner Gewässern, mit Bewag-Mitarbeitern wegen zunehmender Rohrbrüche. „Also – sei tapfer, Berlin!“ schließt Zelle nicht minder poetisch. Zweiter Tag. Der Platz vorm Roten Rathaus ist vereist. Die Berliner laufen Schlittschuh. Dritter Tag. Das Blitzeis-Chaos ist ausgeblieben. Der Karpfenteich vor dem sowjetischen Ehrenkriegerdenkmal ist zugefroren. Die Berliner laufen Schlittschuh.

Und was interessiert uns sonst noch so, uns Berliner? Andere aufregende Dinge natürlich, die Kriminalität und die Unfälle in unserer kleinen Stadt, das Ziel der Rettungswagen, deren Blauhörner man hören konnte am frühen Nachmittag. Ein Feuer in der Graefestraße, eine technische Störung auf der Strecke der U 9, ein Schlosser, der seine alte Mutter misshandelt hat, ein Mord in Marzahn und ein Verdächtiger, der auffällig nach Schnaps gerochen haben soll.

Beiträge, die vom Konzept der Selbstvergewisserung abweichen, sind rar in der Abendschau. Aber es gibt sie doch, die immer mal wieder vorsichtig eingestreuten Sozialanalysen mit Anspruch, hier einen Bericht über häusliche Gewalt und da einen Beitrag über den Speckgürtel Berlins, wo Verlierer aus dem Osten und Gewinner aus dem Westen streiten. Hin und wieder Kultur, ab und zu eine kleine, aber anstrengende Portion Politik, doch wird das alles zum Glück gleich wieder aufgefangen durch die große Reportage fürs Herz: Die Metropole knistert wie verrückt, wie man im Bericht über das Benefizkonzert für Kinder in Afghanistan am Wochenende deutlich sehen kann. Eine ältere Dame aus dem Publikum wird befragt, sie hat ganz rote Bäckchen und freut sich, wie gut alles an diesem Abend zusammengepasst habe. „Und dann noch die Kinder in Afghanistan“, sagt sie.

Die Provinz bringt’s, kann man sich nicht verkneifen zu kalauern, als es später um eine Überrachungshochzeit im Café Rehberge geht. Café Rehberge, das klingt nach Wilmersdorfer Witwen, Günter Pfitzmann und anderen Berliner Institutionen, an denen die Abendschau kleben geblieben ist wie die Fruchtfliege am Quittengelee. Eine andere ältere Dame im Café Rehberge trocknet sich gerührt die Tränen, „Liebe ist Trumpf auch im neuen Jahr“, heißt es und man geht befriedigt zum abendfüllenden Spielfilm über, gestärkt für den nächsten, kalten Tag.

SUSANNE MESSMER