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: i. V. CARSTEN KOZIOLEK über berühmte Nachbarn

Kopf oder Zahl

Wladimir Kaminer hat im „Intershop“ lange das Leben seiner vietnamesischen Nachbarn beschrieben. Nun ist er umgezogen, möchte aber trotzdem, dass die Geschichten über die Familie Phan Than nicht abbrechen. Zum Glück hat er einen begabten Nachbarn hinterlassen, der diese schwierige Arbeit weiterführt:

Die Menschen ziehen in Häuser ein und irgendwann wieder aus. Ganz normaler Alltag in einer Mietskaserne. Vor ungefähr drei Jahren zog Wladimir Kaminer ein. Mit seiner Frau, zwei Kindern und diversen Haustieren mieteten sie die Wohnung direkt gegenüber von uns.

Die Fenster waren alt, und das Bad war verbaut. Die neuen Bewohner schien das nicht zu stören. Man beachtete sich kaum in diesem Haus. Nur Frau Finger, eine 87-jährige Dame, die seit nunmehr 43 Jahren dort wohnt, beobachtete ihre neuen Nachbarn argwöhnisch. Bulgaren waren das ihrer Meinung, Russen sind es, tippte meine Freundin, und lag damit, wie sich später herausstellte, goldrichtig.

Ein Foto unseres Nachbarn, er lässig an einen Laternenpfahl gelehnt, und der dazugehörige Artikel in einem Magazin machte diesen Mann auf einmal interessant. Geschichten soll er schreiben über Episoden seines Alltags in Berlin. Skurrile Geschichten über einfache Leute, fast nebenbei kleine Denkmäler errichtend für sie. Der Veröffentlichung seines ersten Buches fieberten wir ungeduldig entgegen. Und dort entdeckten wir sie dann wieder, die Bewohner unseres Hauses. Aber nicht alle fanden Beachtung. Die deutschen Mieter igelten sich in ihrer Bleibe ein. Ihr Leben findet hinter verschlossenen Türen statt.

Anders die Bewohner des lateinamerikanischen Kulturkreises. Ihre Familienfeiern erfreuten wöchentlich die ganze Hausgemeinschaft. Ihre Wohnung ist nicht ausgelegt für die eintreffende Anzahl Gäste, sodass kurzerhand der Hausflur einbezogen wird. Patriotische Volkslieder mit Rhythmus erklingen noch immer jeden Morgen.

Die wahren Haushelden aber sind die Vietnamesen, auch liebevoll „unsere Vietnamesen“ genannt. Familie Phan Than kämpft seit fast drei Jahren ums Überleben. Ohne Unterlass ackert sie tagein tagaus für einen kargen Hungerlohn in ihrem Lebensmittelladen. Die Belegschaft wechselt halbjährlich. Zurzeit besorgt die schwierige Arbeit ein etwa 40-jähriger Mann. Stunde für Stunde karrt er neues Obst aus dem schrottreifen Transporter in den Laden. Die direkt aus Vietnam eingeflogene Großmutter, eine 1,35 Meter große Frau mit pechschwarzen Zähnen im Mund, sortiert das faulige Obst auf den Stiegen. Zur Mittagszeit bringt sie Suppe in den Laden. Nur manchmal sitzt sie stundenlang auf einer leeren Bierkiste und leistet ihrer Tochter Gesellschaft beim Kassieren der Lebensmittel. Die Kinder der Familie, ein rundliches Mädchen mit Zöpfen, bei Wind und Wetter mit einem Roller aus Aluminium unterwegs, und der pubertierende Sohn übernehmen die Abwicklung der Geschäftspost. Die bescheidenen Deutschkenntnisse des Familienvaters und Geschäftsinhabers reichen dafür nicht aus. Er ist für das Praktische und vor allen Dingen für das Unangenehme zuständig. Sechs Tage in der Woche steht er um drei in der Früh auf, um frische Ware auf dem Großmarkt zu erstehen.

Wladimir wohnt nun schon seit fast einem Jahr nicht mehr neben uns. So lasen wir lange Zeit nichts Neues aus Vietnam. Die durch ihn zu bescheidener Berühmtheit gelangten Arbeitstiere unseres Hauses leben aber weiter und boten Weihnachten erneut Anlass zur Freude. Ein handgeschriebener Zettel prangte an der Haustür: „Die Familie Phan Than feiert heute Abend ein Weihnachtsfest mit viel Musik. Damit Sie sich nicht gestört fühlen, würden wir uns freuen, wenn Sie und Ihre Familien nicht zu Hause sind.“

Einige Tage später erzählte ich Wladimir beiläufig von der kollektiven Ausladung seines ehemaligen Wohnhauses. „Kann ich darüber schreiben?“, fragte er. „Kopf“, sagte ich. „Zahl“, sagte er. Ich warf eine Münze in die Luft. Kopf gewann.