Die Oberleitungsstörung

Mission Impossible vor Kassel-Wilhelmshöhe. Ein Mobiltelefondramolett in vier Akten

Handelnde Personen: ein weiblicher Twen, ein männlicher Twen, ein Soldat, der Zugchef, unschuldige Mitreisende, eine Pointe. Ort der Handlung: ein ICE-Großraumwagen der Deutschen Bahn.

Erster Akt

Weiblicher Twen: Hallooo? Hallo Mama, ich wollt nur sagen, ich sitz jetzt im Zug. Genau. Ja, wenn ich da bin, steig ich um. Um elf bin ich dann da. Ja, bis später, tschauie!

Mobiltelefon des Soldaten (in Anlehnung an die Titelmelodie von „Mission Impossible“): Di-di, di-di-di-di, di-di di-di . . .

Soldat: Oh (kramt in seiner Jacke, dann im Seesack).

Mobiltelefon des Soldaten (lauter): Di-di, di-di-di-di, di-di di-di, di-di-di . . .

Soldat: Scheiße. Ah, da! Wegner. Hi. Lars! Ich bin im Zug. Was gibt’s, Kumpel?

Männlicher Twen: YVONNE? YVONNE, BIST DU DAS? PASS MAL AUF, ICH SCHICK DIR ’NE SMS. NEE, FULDA. OK, JA. ECHT?

Soldat: Ich kann auch einfach ins „Today“ kommen, dann treffen wir uns da. Klaro. Ja, bis dann.

Männlicher Twen: KRASS. JA, ICH MELD MICH DANN.

Zweiter Akt

Männlicher Twen: YVONNE? HAST DU DIE SMS GEKRIEGT? NEE? HM, DAS IST JA KOMISCH.

Zugchef (über Lautsprecher): Sehr geehrte Fahrgäste (Pause). Unser Zug ist (lange Pause). Zwecks einer Störung ist unser Zug außerplanmäßig zum Halten gekommen (Pause). Wir werden unsere Fahrt in wenigen Augenblicken fortsetzen.

Männlicher Twen: JETZT STEHEN WIR HIER AUF FREIER STRECKE. WIE? WAS? AHA . . .

Weiblicher Twen: Hallooo? Ach, Papa. Du, ich wollt nur sagen, der Zug steht gerade. Nee, ich weiß nicht, wo. Ja, ich ruf dann an, wenn es später wird.

Soldat: Lars, kann sein, dass es später wird, ich stehe hier irgendwo in der Pampa. Ich sag noch Bescheid. Ja, genau.

Dritter Akt

Weiblicher Twen: Hallooo? Ja, Mama, wir fahren jetzt wieder, jetzt kommt gleich Kassel, aber wir haben jetzt etwa zehn Minuten Verspätung. Doch, den Anschluss müsste ich eigentlich noch schaffen, der fährt ja erst um viertel nach. Genau.

Männlicher Twen: UND, WIE FINDSTE DIE SMS? SUPER, ODER? ECHT NICHT? DAS IST ABER ’NE GANZE WEILE HER, DASS ICH DIE GESCHICKT HAB! KLINGEL MAL DURCH, WENN DU SIE HAST, OK? JA, BIS DANN.

Zugchef: Sehr geehrte Fahrgäste, hier spricht noch einmal ihr Zugchef. Aufgrund einer Oberleitungsstörung im Bereich des Bahnhofs Kassel-Wilhelmshöhe (es rauscht und knackt) . . .

Soldat: Was ist los?

Männlicher Twen: Oberleitungsstörung. Oh Mann.

Weiblicher Twen: Jetzt verpass ich den anderen Zug.

Männlicher Twen (in mitfühlendem Ton): Wo musst du denn noch hin?

Weiblicher Twen: Hallo, Mama, gib mir mal bitte ganz schnell Papa. Papa, ich bin’s. Es gibt hier so eine Störung, du musst mir mal einen anderen Zug raussuchen. In Kassel. Nein, das weiß ich doch nicht! Eben waren es zehn Minuten, aber bis dahin wird das bestimmt mehr! Jetzt guck doch mal nach! Papa, das wird total teuer so. Ruf mich an, wenn du was gefunden hast.

Mobiltelefon des Soldaten: Di-di, di-di-di-di, di-di di-di, di-di-di, di-di di-di, di-di di-di.

Zugchef: . . . ich wiederhole noch mal: Aufgrund einer Oberleitungsstörung im Bereich Kassel-Wilhelmshöhe kann der Intercity Express . . .

Mobiltelefon des Soldaten: Di-di, di-di-di-di, di-di di-di, di-di-di-di, di-di di-di, di-di-di.

Zugchef: . . . Hannah Arendt . . . seine Fahrt zurzeit nicht fortsetzen. Über Ihre Anschlusszüge werden wir Sie rechtzeitig informieren (Pause). Wir entschuldigen uns für die Verspätung.

Soldat: Wegner. Im Zug, kurz vor Kassel, aber da gibt es eine Oberleitungsstörung. Ich hab jetzt eine Verspätung von . . . (zum weiblichen Twen) . . . Entschuldigung, wie viel Verspätung haben wir jetzt eigentlich?

Weiblicher Twen: Über elf Minuten inzwischen.

Soldat: Über elf Minuten. Ich geh dann gleich ins „Today“. Kanns’ ja den anderen schon mal Bescheid sagen. Oder ich ruf noch mal an. Ja, wir sehen uns dann da, mach’s gut.

Weiblicher Twen: Papa? Hast du jetzt nachgeguckt? Wieso noch nicht? Natürlich sind das noch über zwei Stunden. Ich will das aber trotzdem wissen. Hier ist aber doch kein Schaffner.

Vierter Akt

Zugchef: Sehr geehrte Fahrgäste, unser Zug hat zurzeit eine Verspätung von 21 Minuten . . .

Männlicher Twen: YVONNE?

Weiblicher Twen: Mama, wir haben 21 Minuten Verspätung, warte mal eben . . .

Zugchef: . . . in Hannover haben Sie folgende Anschlussmöglichkeiten: mit einem Regionalexpress von Gleis 4 . . .

Weiblicher Twen: Also ich bin bestimmt nicht vor zwölf zu Hause, wenn das so weitergeht.

Soldat: Ja, Lars, ich bin wahrscheinlich erst später im „Today“. Ja, 21 Minuten.

Männlicher Twen: ICH SCHICK DIE SMS NOCHMAL!

Pointe: (schleicht mit hängenden Schultern von der Bühne)

CAROLA RÖNNEBURG