Tausend Worte hoch

Wenn Gedichte zu richtigem Fleisch werden: Heute beginnt mit „Maulhelden“ das 1. Internationale Festival der Wortkunst im neuen Tempodrom

Am Anfang war ... eben, nicht das Bild, sondern das Wort. Im Zeitalter des visuellen Overkill, neben Multiplex-Kinos, PC und Dauerglotze erlebt das Wort eine Renaissance. Hörbücher erobern sich einen neuen Markt, Hörspiele verzeichnen steigende Einschaltquoten. Lesen angesagte Autoren, stehen die Leute Schlange und lassen sich von Judith Hermann oder Wladimir Kaminer Autogramme in die Erstausgaben kritzeln. Eine „nur“ akustisch erzählte Geschichte überlässt die zweite Ebene, die bildliche, ganz dem Hörer. Die eigene Fantasie trainieren macht Spaß, erst recht, wenn der Akt des Sprechens und Zuhörens zeitgleich passiert, über das reine Vorlesen hinausgeht, wenn mit der Sprache inhaltlich und formal gespielt wird.

Poetry Slams, öffentliche Wettkämpfe von Wortkünstlern, sind seit einigen Jahren nicht nur in New York echte Publikumsrenner. Auch in Deutschland erfreuen diese sich zunehmender Beliebtheit. Das Tempodrom scheint nun mit seinem gigantomanisch anmutenden Programm „Maulhelden“ einen komprimierten Überblick über die aktuelle weltweite Szene der verbalen Helden und Heldinnen bieten zu wollen.

Zehn Tage lang reden, schreien, singen, spielen, seufzen und lesen über 200 „verbal heroes“ aus 20 Ländern auf dem 1. Internationalen Festival der Wortkunst. Je nachdem, wie sich Wort und Gesang, Witz und Ernst, Licht und Klang gewichten, entstehen unterschiedlichste Spielarten der Wortkunst: die klassische Comedy-Show steht neben absurder Lautpoesie a là Dada, und für Nostalgiker gibt’s das linke Politstraßentheater aus San Francisco. Um Fülle und Stilspagat zu bändigen, tragen die drei Spielorte innerhalb des Hauses grobe Überschriften. In der großen Arena dominieren Häppchen-Potpourries aus der deutschsprachigen Kabarett- und Comedyszene. Fremdsprachliches belegt die kleine Arena. Englisches bleibt dabei original, andere Sprachen werden meist deutsch untertitelt. Im Studio schließlich wird gelesen. Laut natürlich.

Mit den „Maulhelden“ versucht das neue Tempodrom am Anhalter Bahnhof, ein winterliches Pendant zu den regelmäßig im Sommer stattfindenden „Heimatklängen“ zu schaffen. Wenn das Publikum das Festival annimmt, soll es jährlich stattfinden. Was das Programm anbetrifft, sollte das kein Problem sein, setzt man doch stark auf Stars. Denn fast alle Exoten aus Übersee sind zumindest in ihrer Heimat prominent, haben eine eigene Radio- oder Fernsehshow.

So Katsura Koharudanji aus Japan, der in der traditionellen Form des Raku-Go erzählt. Im übertragenen Sinn bezeichnet Raku-Go eine Pointe. Seit 300 Jahren sind die komischen, mit Musik unterlegten Geschichten in Japan beliebt. Koharudanji, der im Kimono auf einem Seidenkissen sitzend agiert, mal an seinem Banjo zupft, einen Fächer und ein Taschentuch als einzige Requisiten benutzt, bezeichnet seinen Humor als „universal“. Es geht um Liebe und Alltag im Leben von Geishas und Samurai.

Auch Mieskuoro Huutajat, der brüllende finnische Männerchor, geht inzwischen regelmäßig auf Welttournee. Die 30 jungen Männern, die „offensichtlich nichts Besseres zu tun hatten“, so ein Zitat aus ihrer Homepage, sind mit dieser Einstellung weit gekommen, unter anderem nach Tokio, New York und auf die Biennale in Venedig. Ihre Mischung aus archaischem Gebrüll und präziser Artikulation, gepackt in eine komplexe rhythmisch-klangliche Struktur, lässt das Ausgangsmaterial, finnische Volkslieder, kaum noch heraushören und spricht Besucher von Rock-Clubs ebenso an wie Kammermusikliebhaber.

Die Performance-Poetin Tracy Splinter schließlich hat 1999 sogar einen „brancheneigenen“ Preis gewonnen: Sie siegte in den National Slam Championships in den USA. Die aus Südafrika stammende Wahlhamburgerin unterstützt ihre eigenen Texte mit Sound- und Lichteffekten: „Nur wie etwas gesagt wird, ist die neue Botschaft. Töne, Licht, Körper, ein Gedicht entsteht im Moment. Es wird zu Fleisch.“

ANNA STERN

Von heute bis zum 19. 1. im Tempodrom, Möckernstr. 10, Kreuzberg, Termine siehe taz-plan Seiten 26, 27