Späte Suche nach Francos Opfern

Mehr als 60 Jahre nach dem Spanischen Bürgerkrieg werden verscharrte Tote ausgegraben. Und mit ihnen wird das historische Gedächtnis freigelegt

aus Fresnedo REINER WANDLER

„Stopp!“ Der Schrei übertönt das Brummen und Scheppern des Baggers. Der Arbeiter in der Führerkabine lässt den Steuerknüppel los. Der lange gelbe Arm bleibt in der Luft stehen. Zwischen den Krallen der Schaufel ragt ein langer, schlammbedeckter Knochen hervor. Unten im Loch, das im lehmigen Waldboden klafft, sind weitere Skelettteile auszumachen. Dazwischen liegen zwei längliche ovale Gegenstände. „Gummisohlen“, sagt die Archäologin Mari Luz, die in die Grube gesprungen ist.

„Endlich“, bricht es aus Vicente Moreira heraus, der am Grubenrand steht. Dem 76-Jährigen entgeht keine Bewegung des Baggers, der seit zweieinhalb Tagen systematisch einen halben Hektar Unterholz umgräbt, gleich neben der Landstraße von Fresnedo in der nordspanischen Provinz Leon. Zwei Dutzend Bewohner des nahe gelegenen Dorfs schauen zu. „Dort hinter dem Schlehenstrauch“ – „Rechts unter dem Kastanienbaum“ – „Dort in der kleinen Senke“ – je länger die Suche dauert, um so zahlreicher werden die Hinweise. Jeder ist sich „völlig sicher“ – alle berufen sich auf eine „verlässliche Quelle“, ob das nun der Onkel ist oder der Großvater. Unruhig suchen Moreiras Augen während der Grabung jede Krume Erde ab. Jeder Stock, jede Baumwurzel verdient höchste Aufmerksamkeit. Der Schlüsselbund in den Händen des Alten wandert unablässig von einem Finger zum anderen. Vicente Moreira sucht die sterblichen Überreste seiner Mutter, Isabel Picorel Celada. Jetzt haben die Bagger sie gefunden. „Endlich“, murmelt der Alte noch einmal. Dann weicht die Anspannung, seine Stimme versagt vor Rührung.

Elf Jahre war Vicente Moreira alt, als er seine Mutter zum letzten Mal sah. Es war eine kühle Nacht in der zweiten Augusthälfte 1936 in der Bergen Nordspaniens, nicht weit von Fresnedo. In Spanien herrschte seit etwas mehr als einem Monat Krieg, der Bürgerkrieg der aufständischen Rechten um General Francisco Franco gegen die Republik und deren verfassungsmäßige Ordnung.

Gefesselt, verschleppt, erschossen

Vicente Moreiras Vater war Bergarbeiter und hatte sich den republikanischen Milizen angeschlossen. El Bierzo, die Heimatregion Moreiras, lag ungeschützt im Hinterland. „Ich erinnere mich noch genau, wie die Falange über die Berge in unser Dorf Langre kam.“ Moreiras Mutter Isabel Picorel flüchtete mit ihren drei Söhnen. Sie war sicher, dass sie als Frau eines Milizionärs und ortsbekannte Sozialistin von den faschistischen Pistoleros nichts Gutes zu erwarten hatte. „Wir wollten uns nach Asturien zu unserem Vater durchschlagen“, erinnert sich Moreira, „Mutter wollte nur noch einmal kurz nach Hause, um Kleidung zu holen.“

Von diesem Ausflug kam sie nie zurück. Isabel Picorel fiel den Falangisten in die Hände. Diese machten kurzen Prozess. Zusammen mit drei Nachbarn wurde sie am 28. August 1936 gefesselt auf einen Lieferwagen verbracht. Kurz vor der Einfahrt zum 20 Kilometer entfernten Fresnedo mussten sie aussteigen. Schüsse fielen. Die vier sackten leblos zusammen und wurden verscharrt. „Als wir Kinder erfuhren, was geschehen war, schlugen wir uns alleine nach Asturien durch“, sagt Moreira. Ein Jahr später schickte der Vater Vicente Moreira und einen seiner Brüder nach Russland. Die Sowjets nahmen Kinder aus den republikanischen Zonen Spaniens auf. „Bis zum Sieg, und dann sollten wir zurückkehren“, habe es geheißen. Doch es kam anders. Die Republik unterlag. Moreiras Vater kam ins Gefängnis und die Kriegsflüchtlinge saßen in Russland fest. Der kleine Vicente war zuerst in Leningrad, dann in Moskau und schließlich in Baku. Erst 1956 hatte die sowjetische Regierung ein Einsehen mit den „Kriegskindern“. Moreira durfte zurück. Da war er 31 Jahre alt. Alles was er mitbrachte, war eine Ausbildung zum Bildhauer.

„Endlich“, sagt Moreira noch einmal – jetzt wieder mit sicherer Stimme. „Mein ganzes Leben lang, in den schwierigsten Augenblicken, habe ich immer gehofft, dass ich eines Tages die sterblichen Überreste meiner Mutter finden würde.“ Schon seit 20 Jahren wusste er ungefähr, wo die Falangisten seine Mutter und die anderen drei in eine eilig ausgehobene Grube geworfen hatten. Doch das Grab zu suchen, wagte Moreira auch nach dem Ende der Diktatur 1975 nicht. Erst letzten Herbst schöpfte er Mut. „Mein Großvater war auch ein Verschwundener“, hatte über einer Reportage in der Tageszeitung El Mundo gestanden. „Der Text war von Emilio“, erinnert sich Moreira und zeigt auf den jungen Mann, der ein paar Meter weiter aufmerksam die Ausgrabungen beobachtet. „Wir haben die Mauer des Schweigens durchbrochen“, bestätigt Emilio Silva. Der 35-jährige Journalist aus Madrid hatte im Spätsommer 2000 zusammen mit seinem Onkel beschlossen, ein Massengrab in Priaranza, ebenfalls in der Region Bierzo, zu öffnen. „Das ganze Dorf wusste, dass mein Großvater und zwölf weitere Republikaner dort nach einer Massenhinrichtung vergraben worden waren.“ Die Leichen zu bergen, wagte jedoch keiner. „Die Angst hat sich in den 40 Jahren Diktatur so tief in den Menschen festgesetzt, dass viele selbst heute die Gräber nicht öffnen wollen“, sagt Silva.

Drei Tage dauerte es auch in Priaranza, bis das Grab gefunden wurde. Acht Familien wissen, dass einer der Ihren darunter ist. Wer die anderen fünf sind, weiß keiner. Um die einzelnen Skelette zuzuordnen, soll eine DNA-Analyse der medizinischen Fakultät im südspanischen Granada weiterhelfen.

In Fresnedo leben 250 Menschen. „40 Tote liegen in sieben Massengräbern“, versichert Silva. Er will sie alle öffnen lassen. Auch wenn das jedes Mal mehrere Tage dauern wird. „Dass keiner den ganz genauen Ort kennt, hat auch mit der Angst zu tun“, meint er. Niemand hat es in den Jahren der Diktatur gewagt, die Gräber zu markieren. Heute, über 65 Jahre nach den Massenerschießungen, spielen die Gedächtnislücken der Anwohner Silva und den Archäologen, die alle ehrenamtlich bei der Suche behilflich sind, so manchen Streich.

„Hier liegen mehr Menschen außerhalb der Friedhöfe begraben, als drinnen“, heißt einer der Sätze, der im Bierzo jahrelang hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde. Jetzt, wo die Ausgrabungen begonnen haben, reden sich die Menschen ihre Angst, ihre schrecklichen Erinnerungen von der Seele. Alle Umstehenden geben ihre Familiengeschichte zum Besten. In den meisten Familien sind Mitglieder ins Exil gezwungen oder umgebracht worden.

„Genau eine solche Aufarbeitung wollen wir erreichen“, sagt Silva zufrieden. Wir, das ist die „Vereinigung zur Rückgewinnung des historischen Gedächtnisses“, wie sich Silva und die ehrenamtlichen Archäologen seit der Öffnung des Grabes von Priaranza nennen. Oft muss sich Emilio Silva den Vorwurf gefallen lassen, zu tief in der Vergangenheit Spaniens zu graben. Kein einziger Fernsehsender berichtete über die Öffnung des ersten Massengrabes im Oktober vergangenen Jahres.

Zu viele Gräber ohne Namen

In Spanien sind die Unterdrücker von einst auch nach dem Übergang zur Demokratie nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Doch Emilio Silva will nur eins: „Den vielen Toten den Platz in der Geschichte geben, den sie für ihren Kampf für Demokratie und Freiheit verdienen. Es gibt viele, zu viele Gräber voller Menschen ohne Namen.“

Auch Vicente Moreira möchte nicht über politische Bedenken reden. Bei anderen mögen die Ausgrabungen alte Wunden aufreißen. Bei ihm selbst verheilen sie mit jedem Knochen, jedem Gegenstand, den der Waldboden freigibt. „Wärme spüren, nur durch ihre Anwesenheit, so wie damals 1936, in dieser ungerechten Welt“, beschrieb der Alte seine Sehnsucht, als er Silva und die Archäologen um Hilfe bei der Suche nach den sterblichen Überresten seiner Mutter bat. Ende März, in der Osterwoche, wird Moreira seine Mutter in Zamora beerdigen. Eine von ihm geschaffene Bronzeskulptur – offene Hände, die eine Flamme halten – soll die letzte Ruhestätte von Isabel Picorel Celada zieren.