Fritz und seine Freunde

■ Eine hingerissene Barbara Alms präsentierte in Delmenhorst die Neuerwerbungen der graphischen Sammlung – ein beeindruckender Abriss der europäischen Avantgarde

„Haben wir Schwitters jetzt? Kandinsky hängt... Und Kupka? Also, den da, ein bißchen rechts. Ja: perfekt.“ Aus dem geschäftigen Tun der beiden Mitarbeiterinnen der Städtischen Galerie, die die Bilder kurz vor Toresschluss noch mit den dazugehörigen Künstlernamen ausstatten, erschließt sich bereits ein „Who is Who“ der Europäischen Avantgarde, die vor allem im Berlin der Zehner und Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts ihren Lauf nahm.

„Akrobaten, Harlekine und Amazonen“, so der Titel der Ausstellung, die das Netzwerk aus Künstlerfreunden und -kollegen um den 1881 in Delmenhorst geborenen Maler Fritz Stuckenberg präsentiert und dabei den kunstgeschichtlichen Weg, den die Avantgarde von ihren Anfängen bis hin zum Konstruktivismus nimmt, nachzeichnet. „Local Hero“ Stuckenbergs Popularität wird mit dieser Retrospektive tüchtig unter die Arme gegriffen, obwohl ihm Delmenhorst selbst damals zum Verhängnis wurde. 1921 kehrte er aus Berlin zurück, unwissend, dass der Rückzug in die Provinz sein künstlerisches Todesurteil bedeuten würde: Er verlor den Anschluss zur Kunstmetropole Berlin.

Stolze 60 Neuerwerbungen konnte Kuratorin Barbara Alms in den letzten drei Jahren aufkaufen, wie sie auf der gestrigen Pressekonferenz nicht ohne Stolz verkündete. Und zeigt sich erleichtert aufgrund des Ergebnisses: „Ich habe gezittert, als noch unklar war, ob wir eine stimmige Ausstellung hinbekommen“. Nun ist sie ganz begeistert – und mit Leidenschaft bei der Sache. Etwa, wenn sie von dem Glücksgriff erzählt, eine Bleistiftzeichnung von Aristide Maillol erbeutet zu haben: „ ,Drei Nymphen', darüber freu ich mich am meisten – hinreißend, gaaanz hinreißend!“

Und lässt sich beim Vortrag auch nicht von einer erwerbsschreibenden Kollegin aus dem Konzept bringen, die sich forsch nach den Geldgebern erkundigt („Sie haben doch sicher keinen hohen Ankaufs-Etat, oder?“). Hat sie nicht, aber wohlwollende Stifter, wie das Land Niedersachsen oder den Freundeskreis Coburg. Ab heute ist die Erweiterung der bestehenden Sammlung Stuckenberg der Öffentlichkeit zugänglich. Zwar finden sich auf den insgesamt 80 graphischen Werken – Aquarelle, Holz- und Linolschnitt, Zeichnungen und Skizzen – mitunter tatsächlich Amazonen oder Akrobaten, doch ist der Titel hauptsächlich als Metapher für das Selbstverständnis der beteiligten Meister zu verstehen. Ein Satz des frühexpressionistischen Schriftstellers Karl Otten ziert diesbezüglich eine blaue Wand: „Ein Akrobat ist ein Mensch, der etwas auf die Spitze treibt. Die einen meinen ihr Vergnügen, ihre Spannung, er meint seine Kraft und sein Leben“. Barbara Alms, seit 1989 Leiterin der Galerie im Haus Coburg, ergänzt: „Trotz all dem Glanz und Glamour, der der Epoche oft anhaftet, ist es den Künstlern ernst gewesen. Ihre Arbeit hatte etwas Getriebenes, Tie-fes, es ging um's Existentielle“.

Entsprechend finden sich Themen, die die wirklich schlüssige Zusammenstellung der Werke wie ein roter Faden durchziehen. Ein sich rasant veränderndes Leben in der aufregenden Großstadt, Interesse für die Welt des Varieté als eine, die die „Ausgegrenzten zum Glänzen brachte“ (Alms). Zusätzlich gibt es im vierten Raum einen reflektierenden Blick auf den menschlichen Körper, wenn etwa im „Wandernden Jüngling“ von Heinrich Campendonk das beengende moralische Korsett des Wilhelminischen Zeitalters visualisiert wird.

Auf dem Rundgang durch die Ausstellung auf den Fersen der Kuratorin erschließt sich schrittweise die avantgardistische Entwicklung – vom anfangs noch zaghaften künstlerischen Abgesang auf den Impressionismus bis hin zum Konstruktivistischen. Kandinskys Holzschnitte, die zunächst noch stark im Jugendstil verhaftet sind und damit ein Sehnen nach Ursprünglichkeit oder Kindheitserinnerung beinhalten, werden schließlich zu sehr abstrakten Kompositionen.

Die scheinbar ins Unendliche reichenden, nicht komponierten „All Over“-Gemälde Stuckenbergs erinnern stark an den abstrakten amerikanischen Expressionismus der 50er Jahre, obwohl damals bestimmt noch niemand von „action paintings“ gehört hatte. Weiteres Highlight: die mehr als experimentellen Holzschnitte von Kurt Schwitters, von denen es nur einige wenige gibt. Barbara Alms: „Frech und splitternd sind die – der hat in's Holz gehauen, bis es krachte!“

Roland Rödermund

Bis zum 10. Februar in der Städtischen Galerie Delmenhorst, Fischstraße 30. Öffnungszeiten: Di. bis So. 10 - 17 Uhr, Do. 10 - 20 Uhr