Wirbel um Cornelius

Meines tiefen Herzens Schacht hast du mit Liebe voll gemacht: Es passiert selten, dass ein Bekannter in der Medienkritik steht. Will man es deshalb genauer wissen, wird man leicht in paranoide Netze verstrickt. Und entdeckt dabei lustige Dichterinnen

von DETLEF KUHLBRODT

Es passiert häufig, dass man am Bahnhof Leute trifft, die man jahrelang nicht gesehen hat. Umso häufiger wahrscheinlich, je seltener man mit der Bahn fährt. Am 24ten hatte ich Verena getroffen. Vor 16 Jahren waren wir zusammen in den Urlaub nach Frankreich gefahren. Unser Auto war zusammengekracht und steht wohl immer noch in Frankreich. Wir versuchten kurz zusammenzufassen, was wir in den letzten Jahren so gemacht hatten. Wir sprachen auch über Psychotherapien. Es gibt ja so viele, die eine machen und die sind ja auch nicht die Schlechtesten Dann ging es um Cornelius, ihren großen Bruder. Er hatte mal als Logotherapeut gearbeitet. Mir war nie richtig klar gewesen, was das genau ist und beim Schreiben bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob die Berufsbezeichnung richtig ist. Es ging jedenfalls um was Therapeutisches mit größeren Lebenssinnfragen und Cornelius hatte auch immer so erwachsen gewirkt. Vor zehn Jahren war er nach Budapest gegangen und hatte dort eine Familie gegründet. Irgendwie hatte er auch mit dem Goethe-Institut zu tun gehabt.

Vor zwei Jahren also hatten ihn Mitarbeiter des Instituts auf eine Buchrezension aufmerksam gemacht, die am Schwarzen Brett hing. Es ging um ein Werk der schweizer Dichterin Birgit Kempker, die in Budapest lesen sollte. Das Buch hieß: „Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag, war es Cornelius Busch ...“ und erzählte auf hundert Seiten sehr detailliert von diesem Ereignis, dass irgendwann in den 70er Jahren stattgefunden hatte. Cornelius war ein wenig konsterniert über das, was seine Schwester „Eierstockliteratur“ nannte, kaufte sich das Buch, fand seinen Namen mit zahllosen biografischen Details in dem Poem und verklagte die Autorin auf Schmerzensgeld, Einstampfung der kleinen Auflage sowie Erstattung des Geldes, das er für das Buch bezahlt hatte.

Die Geschichte machte ein wenig Wirbel. In allen möglichen Zeitungen wurde der Fall kommentiert und Cornelius wurde ein humorloser Mensch gescholten, wogegen, wie ich finde, die Tatsache sprach, dass er auch auf Erstattung des Kaufpreises geklagt hatte. Die Überschriften der Artikel freuten sich am kleinen Wortspiel – „Ein Corpus Delicti im Busch“ o.ä. – die meisten Autoren hatten die Freiheit der Kunst bedroht gesehen und fanden es unmöglich, dass gerade ein Deutscher ein Buch vernichten lassen wollte.

Cornelius hätte eine unangenehme Zeit durchstehen müssen. Besonders perfide sei gewesen, so Verena, dass die Lesereise der Dichterin Birgit Kempker durch alle Städte geführt hatte, in denen Cornelius mal gewohnt hatte. Am Ende hatte er aber doch seinen Prozeß gewonnen. Dann waren wir auch schon in Hamburg, unsere weihnachtlichen Wege trennten sich. Natürlich wollte ich mehr von der Sache erfahren – es passiert ja nicht häufig, dass ein Bekannter in der Medienkritik steht.

Nach Weihnachten schaute ich im Internet nach. Im „Freitag“ wurde Cornelius ein „selbsternanntes Opfer“ genannt. Der Autor, sicher ein Germanist, betonte, „dass zwischen der Figur eines poetischen Textes und ihrem empirischen Vorbild aus der Wirklichkeit immer eine unaufhebbare Differenz besteht, dass also die Realperson und die Kunstfigur ‚Cornelius Busch‘ zwei völlig verschiedene Subjekte sind. (...) Nicht ‚Cornelius Busch‘ wird in diesem Prosa-Poem dekonstruiert“ schloß er triumphierend, „sondern die Sprache selbst, in der sich ständig ‚Phasenverschiebungen‘ vollziehen und kein Wort in einer festen Semantik stillgelegt werden kann.“ Der letzte Satz war so die Pointe fast jeder literaturwissenschaftlichen Arbeit der 80er und man wunderte sich, dass solche Dinge auch ernsthaft im echten Leben geschrieben werden.

In einer Schweizer Literaturzeitschrift stand: „Indem sie dieses erste Mal mit Cornelius Busch poetisch umgarnt, nimmt ihm Birgit Kempker den falschen Zauber und gibt ihm die ungeteilte Lust zurück ...“ Irgendwann – es war schon recht spät in der Nacht – führte mich ein Google-Link zum „Assoziations-Blaster“. Der „Assoziations-Blaster“ ist ein „Text-Netzwerk mit nicht-linearer Echtzeit-Verlinkung. Der folgende Text ist zufällig aus den Texten zum gegebenen Stichwort ausgewählt.“ Das Stichwort war „Cornelius“. Der Text ging so: „Meine Eltern lebten früher in Emden. Später zogen sie zwar weg, aber als sie mich bekamen, kehrten sie zurück. Sie gingen über Friedhöfe und auf einem sahen sie den Namen Cornelius, den fanden sie gut.“

Nachdem ich das gelesen hatte, stürzte der Computer ab. Ich war mir sicher, mir einen Virus eingefangen zu haben. Ich stellte mir vor, dass die Dichterin Birgit Kempker in der Vorstellung, Cornelius würde sicher gucken, ob sie ihr Poem nicht ins Internet gestellt habe, ihm, also Cornelius, eine Falle hatte stellen wollen, in die ich nun getappt wäre. Der Computer ging aber wieder an. Nachdem ich wieder „Cornelius“ gegoogelt hatte, kam erst: „Cornelius ist süß. Wenn er die Augen schließt, geht kurz das Licht aus.“ (User-Bewertung: +1) und dann „Wer wichst deinen Schwanz“ inklusive einer Eingabemöglichkeit für eigene Texte. Überschrift: „Cornelius ist ein auf der ganzen Welt heiß diskutiertes Thema. Deine Meinung dazu schreibe bitte in das Eingabefeld.“ Plötzlich fühlte ich mich in ein paranoides Netz verstrickt, umso mehr, als ich über einen Link zu den Werken der Dichterin Friederike Kempner stolperte.

Die Dichterin Friederike Kempner sei 1836 in Opatow (Posen) geboren und 1904 in Friederikendorf gestorben, hieß es und dass sie unter anderem ein Gedicht mit dem Titel: „Als jemand beim Anblick einer armen Frau den Kopf wegwendete“ geschrieben hätte. Das passte nur zu gut und ich hielt die Dichterin Friederike Kempner zunächst für eine perfide Erfindung der Dichterin Birgit Kempker. Doch die große Zahl der Links, die es in Sachen Friederike Kempner gab, überzeugten mich, dass es sie wirklich gegeben hatte.

Friederike Kempner also veröffentlichte von 1880 bis 1903 acht Auflagen ihrer Gedichte im Selbstverlag. Die Tochter eines Pächters und Rittergutsbesitzers engagierte sich in der Armen- und Krankenfürsorge. 1869 begann sie ihre Aktion zur Reform des Gefängniswesens. Zeitgenossen und Nachwelt schätzten den „schlesischen Schwan“ nicht zuletzt als Klassikerin des unfreiwilligen Humors: Der rituelle Vortrag ihrer Gedichte diente bei geselligen Anlässen unverbrüchlich zur allgemeinen Erheiterung.“ Berühmt unter Insidern wuden vor allem ihre Zeilen: „Meines tiefen Herzens Schacht hast du mit deiner Liebe vollgemacht.“