Die Methode der sanften Kopfgeburt

Nenn es Indietronics: The Notwist verschränken Gitarren, Elektronik und stapelweise komische Geräusche zu einem Genre, das vom oberbayerischen Weilheim aus die Welt erobert – mindestens. Ihr neues Album „Neon Golden“ lädt zum besinnlichen Schmökern ein, einen dichteren Sound gibt’s nicht

Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit textete Markus Acher auch ein protestsongartiges StatementEine Platte, die Tanzboden und Rockclub verschränkt,Indie-Mentalität und Popcharts zusammendenkt

von THOMAS WINKLER

Womit haben wir es hier zu tun? Vier um einiges zu spät gekommene Hippies mit ein paar melancholischen Melodien? Oder nur eine leidlich modernisierte Gitarrenkapelle mit Depressionen? Die große weiße Hoffnung der Independent-Kultur? Oder bloß ein paar ebenso eigenbrötlerische wie überzeugte Provinzler? Ein Labor für die Musik der Zukunft? Oder nur die letzten Zuckungen des Indierock? Was ist das, The Notwist?

Ein Blick auf die Protagonisten erklärt nicht viel: Lockige Haare, Anflüge von Bärten, einfarbige, dunkle Pullover, Brillen, Jeans. Markus und Michael Acher sind Mitte Dreißig, ein Bruderpaar, das das Zentrum des Quartetts aus dem oberbayerischen Weilheim bildet. So wie sie da sitzen, sehen sie nahezu genauso austauschbar aus wie der schmucklose Konferenztisch, an dem das Interview statt findet. Alles, was dieser Anblick verrät, ist: Hier geht es um die Musik. Um sonst nichts.

Aber was für Musik machen The Notwist auf ihrem neuen, nun schon fünften Album „Neon Golden“? Oberflächlich ist es eine ruhige, unaufgeregte, stets angenehm traurige Musik mit schmeichelnden Melodien, die sich trotzdem nicht wirklich festsetzen wollen im Hirn. Obwohl sie zu einer gewissen Geistesschwere und Ernsthaftigkeit neigt, haftet dieser Musik etwas Federleichtes, Flüchtiges an.

Vielleicht wäre es einfacher, den Gegenstand negativ zu definieren. Denn sehr entschieden haben wir es im Falle von Notwist nicht mehr zu tun mit „diesem Indierock-Dings“. Davon, darauf legt Markus Acher wert, habe man sich mittlerweile weit entfernt.

Tatsächlich liegen die gitarrenkrachenden Anfänge von The Notwist zwar nicht in grauer Vorzeit, aber doch noch in den frühen Neunzigerjahren des letzten Jahrtausends. Damals waren die beiden Achers und ihre Mitstreiter eine der vielen Bands aus der deutschen Provinz, die in der Nachfolge von SST und Grunge versuchten, zeitgemäßen Gitarrenrock zu fertigen. Man erspielte sich als Dinosaur-Jr.-Epigonen eine kleine Fangemeinde, aber außergewöhnlich an The Notwist war bestenfalls die Tatsache, dass Markus und Micha sich ein Zubrot verdienten, indem sie an den Wochenenden in der Dixie-Band von Vater Acher zum dörflichen Tanzvergnügen aufspielten.

Mitte der Neunziger schließlich begab man sich auf die Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Und wurde fündig im eigenen Örtchen, dem gerade mal 20.000 Seelen zählenden Weilheim, etwa 40 Kilometer südwestlich von München. Dort wohnte Martin Gretschmann, damals noch Bassist in der nur lokal bekannten Punkband Toxic, längst aber als Console auch zum gefragten DJ, Produzenten und Elektronik-Bastler gewachsen. Gretschmann begann für Notwist Beats zu bauen, wurde schließlich 1997 neben Schlagzeuger Martin Messerschmidt zum vierten festen Mitglied und ist seitdem zuständig für, wie Markus Acher es nennt: „Elektronikgeknurpse“.

Mit Hilfe dieses Geknurpses entsteht das 98-er Album „Shrink“, das man in der Retrospektive durchaus sehen kann als Grundlage und ersten, kompletten Ausdruck eines neuen Genres, das mittlerweile mit Indietronics einen flotten Namen und mit Zusammenstellungen wie der Spex-Compilation „Data Pop“ vor kurzem auch reichlich Presse bekommen hat.

Man könnte nun sagen, Indietronics sei eine Kopfgeburt: Gitarrenpop kann keiner mehr hören, also pappen wir ein paar elektronische Beats drunter, spielen ein bisschen mit dem Sampler rum, lassen ein paar Remixe machen, dann klingt das schon modern. Musik von Studis für Studis. Und: Da ist schon was dran. Nur: Kann einem das egal sein, wenn die Kopfgeburt sich so organisch, logisch, einfach so wundervoll anhört wie auf „Neon Golden“.

Denn mit ihrer neuen Platte ist The Notwist tatsächlich ein Stück Musik gelungen, das all die Lobhudeleien rechtfertigt, die momentan über sie zu lesen sind. Jeder der zehn Songs ist ein potenzieller Hit, ein schlafender Gigant. „Neon Golden“ ist eine Platte, die man wieder und immer wieder hören kann, um dann doch noch einmal Neues zu entdecken, man kann in ihr schmökern, immer neue Lieblingsstellen finden, verhuschte Klänge da, vergessene Geschichten dort, verträumte Intros und ausufernde Outros.

Selten wohl ist im CD-Zeitalter eine Popplatte erschienen, die so mühelos und doch so dicht klingt. Denn anstatt die 72 Minuten voll zu packen, die auf den Datenträger passen, dauert die Schönheit von „Neon Golden“ nicht einmal eine Dreiviertelstunde. Aber „15 Monate fast jeden Tag im Studio“ waren nötig, das Werk aufzunehmen. „Das gönnen wir uns bei Notwist“, sagt Micha Acher ohne auch nur den leisesten Anflug von Ironie, „so lange an etwas arbeiten, bis es uns hunderprozentig gefällt“.

Also vergrub man sich im Studio, den Fusion-Ansatz von „Shrink“ weiter zu denken, auszuformulieren, sich Zeit zu lassen, „zu sammeln und zu gucken“, so Markus Acher, „was so entsteht“. Die Ideen flogen herein und stapelten sich in der Ecke, die „komischen Geräusche“ vermehrten, die Bänder häuften sich. „Alles ausgelotet und alles ausprobiert“, erklärt Markus, „einen Entwicklungsprozess zulassen, dass innerhalb der Stücke Sachen passieren, die wir uns vorher noch gar nicht vorstellen konnten.“ Und dann wurde erst mal wieder alles weggeworfen. Dazu kamen und gingen die Gastmusikanten. Denn so sehr sich Notwist auch musikalisch mittlerweile von ihren Anfängen als Indie-Gitarrenrockband entfernt haben, geschäftlich und gesellschaftlich halten sie die alten Ideale weiter hoch.

In Weilheim, dem 30 Kilometer entfernten Landsberg und Umgebung entstand im vergangenen Jahrzehnt eines der letzten und außerhalb von HipHop sicherlich auch das momentan noch am besten funktionierende unabhängige Netzwerk. Die Bands und Seitenprojekte hießen und heißen Tied + Tickled Trio, Lali Puna, Console, Fread is Dead oder Village of Savoongas. Die Labels nennen sich Payola, Kollaps oder Hausmusik. „Neon Golden“ wird eröffnet mit „One Step Inside Doesn’t Mean You Understand“, einem Song, den Markus Acher entgegen einer sonstigen Tradition von eher kryptischen Texten geschrieben hat als „protestsongartiges Statement“ gegen ein „Musikbusiness, das sich in letzter Zeit monopolisiert und in allen Bereichen auf eine Pop-Gewinner-Charts-Mentalität ausgerichtet hat“. Das neue Album mit seinen aufeinander getürmten Schichten, mit all den Tönen, die nicht mehr zu hören, aber halt doch noch da sind, ist zu verstehen als bewusster Gegenentwurf zu dem „oberflächlichen, einfach strukturierten Pop, der salonfähig geworden ist“.

Andererseits wollen die Achers auch nicht als Posterboys des Indietums in die Geschichte eingehen: „Wir sind keine Projektionsfiguren, man kann nicht mehr sagen, ich will grundsätzlich nicht in die Charts. Aber wir sind weiter in dieser Indie-Szene. Das sind wichtige Themen, die sollte man nicht verwaschen.“ Trotzdem: Es geht auch um Finanzen. So erscheint „Neon Golden“ zwar bei einem Indie-Label. Aber bei einem, das mit einer Major-Plattenfirma kooperiert.

Viele der Protagonisten aus der oberbayerischen Provinz, so der Großteil von Notwist, mögen mittlerweile nach München verzogen sein, aber aufgenommen wird weiter in Weilheim unter der Regie von Mario Thaler und Olaf Opal in den Uphon Studio. Dort entstand auch „Neon Golden“. Oder richtiger: Dort entstand „Neon Golden“ nahezu vollständig. Denn „der Prozess“, wie Markus die ausufernde Arbeitsweise nennt, birgt „die extreme Gefahr, dass die Musik auseinander fällt“. So brauchte es schlussendlich einen Tag in den Abbey Road Studios, auf dass der legendäre Tonmeister Chris Blair ein paar Regler hin und her schob und am Ende aus all dem Chaos doch noch ein Meisterwerk erwuchs.

Eine kleine Ewigkeit an der Musik basteln, auf dass sie sich der Unendlichkeit wert erweise. Ein wenig an der Perfektion feilen und polieren. Offensichtlich haben wir es hier mit einem besonders schweren Fall von Berufsauffassung zu tun: The Notwist sind Musiker-Musiker, die sich lange, sehr sehr lange mit jeder einzelnen Noten beschäftigen können. Man gönnt sich ja sonst nichts. Auch wenn das Scheitern inbegriffen ist. „Fail with consequence“, singt Markus Acher mit seiner leicht gewöhnungsbedürftigen, lamentierenden Stimme, „loose with eloquence and smile“. Sie haben nicht vor, noch so eine Platte aufzunehmen, sagen die Achers, denn die Art zu Arbeiten ging an die Substanz: „Wir haben Energie und Leben verloren.“

Am Ende solcher egomanischer Exzesse steht dann „Pet Sounds“ oder, sehr viel öfter, eine Katastrophe. Oder eben „Neon Golden“. Eine Platte, die alles will, und doch immerhin sehr vieles erreicht. Gitarren und Elektronik bruchlos zu fusionieren vor allem natürlich, aber auch Blues zu Folk zu Rock zu Pop zu Dub zu Easy Listening zu Notwist werden lassen. Cello, Computer, Piano, Rhythmusmaschinen, Gitarren, Sampler, Bläser und Perkussionsinstrumente, deren Namen man bislang noch nie gehört hatte, in eine Form zu gießen. Eine Platte, die Tanzboden und Rockclub ineinander verschränkt, Indie-Mentalität und Popcharts zusammen denkt, Tradition und Innovation miteinander versöhnt. Und nicht zuletzt die Melancholie jeder Weinerlichkeit entkleidet und sie definiert als durchaus denkbares, grundsätzliches Lebensgefühl.

The Notwist haben mit „Neon Golden“ vielleicht nicht gleich alle vier Springen gewonnen, aber doch mindestens den Gesamtsieg in der Tourneewertung errungen. Wenn der Frühling kommen wird, spricht womöglich niemand mehr von Sven Hannawald. Aber so lange der Schnee noch nicht getaut ist, sind The Notwist die Band der Stunde und „Neon Golden“ die allerschönste denkbare Platte dieser, unserer Gegenwart.

The Notwist: „Neon Golden“ (City Slang/ Big Store/ Labels/ Virgin): 14. 1. München, 26. 1. Hamburg, 27. 1. Köln, 27. 2. Freiburg, 28. 2. Mannheim, 14. 3. Stuttgart, 15. 3. Nürnberg, 16. 3. Dresden, 17. 3. Leipzig, 18. 3. Berlin, 19. 3. Hannover, 20. 3. Düsseldorf, 21. 3. Darmstadt, 15. 4. Köln