Schuss auf jeden, der vor den Lauf kommt

Bei einer Großoffensive der russischen Armee in Tschetschenien werden hundert mutmaßliche Rebellen getötet

MOSKAU taz ■ Mit einer groß angelegten Offensive begingen russische Militärs die vergangenen Feiertage in Tschetschenien. Obwohl die Weltöffentlichkeit den Kaukasusfeldzug spätestens seit dem 11. September nicht mehr zur Kenntnis nimmt, suchte die Armee dennoch den Schutz des Friedensfestes, um ihren Teil zur Antiterrorismuskampagne beizutragen.

In Argun, der drittgrößten Stadt Tschetscheniens, demonstrierten am Dienstag mehrere hundert Menschen gegen die seit Mitte vergangener Woche laufenden „Säuberungsmaßnahmen“ der Armee. Laut offiziellen Militärberichten wurden bei den Aktionen in Argun, Noschai Jurtowsk und Zozin Jurt hundert vermeintliche Rebellen getötet und 187 Verdächtige vorübergehend festgenommen. 13 sollen sich noch im Arrest befinden. 40 Soldaten hätte die russische Armee verloren, meldet die Website der tschetschenischen Rebellen www.kavkaz.org. Die Angaben beider Seiten sind gleichwohl mit Vorsicht zu genießen.

Am Montag setzte die Armee in Argun auch Kampfhubschrauber ein, nachdem eine Militärpatrouille angeblich unter starken Beschuss geraten sei. Das staatliche russische Fernsehen berichtete, dabei sei ein Unterschlupf der Rebellen vernichtet und zwölf Leichen seien unter den Trümmern des zerstörten Hauses gefunden worden. Wie in solchen Fällen üblich, wird unterstellt, dass es sich bei den Opfern um Mitglieder fundamentalistischer Gruppierungen handelt.

Vertreter verschiedener NGOs in der Region werfen den Militärs indes schwere Menschenrechtsverletzungen vor. Ein Sprecher der Organisation Memorial berichtete, bei der viertägigen Durchsuchungsaktion in Zozin Jurt hätten die Militärs auf jeden Mann geschossen, der ihnen vor den Lauf kam. Eine Mitarbeiterin Memorials, die sich drei Tage in dem belagerten Ort aufhielt, will Beweise gesammelt haben, wonach 37 Zivilisten von den Truppen während der „satschistka“ getötet worden seien. Um die Leichen bestatten zu können, mussten die Angehörigen vorher eine Erklärung unterschreiben, dass die Opfer Mitglieder einer Rebellenorganisation gewesen seien. „Militärs töten Zivilisten und versuchen sie dann als Rebellen auszugeben“, sagte Cheda Saratowa.

Die Menschenrechtlerin berichtete überdies von dem Fall des 37-jährigen Mullahs Musa Ismailow aus ZozinJurt. Vor den Augen seiner Frau sei der Geistliche abgeführt worden, nachdem Soldaten ihm ein Ohr abgeschnitten hatten. Als sie versuchte, ihm zu folgen, sei sie von den Soldaten bedroht worden. Um den Leichnam ihres Mannes später zu erhalten, musste sie 1.000 Rubel (50 Euro) bezahlen und schriftlich erklären, dass ihr Mann auf Seiten der Freischärler gekämpft hätte. Die Witwe fürchtet, ihr 17-jähriger Sohn werde nun zu den Rebellen überlaufen und seinen Vater rächen, wie es das ungeschriebene Gesetz der Blutrache im Kaukasus verlangt.

Der für Tschetschenien zuständige Staatsanwalt, Wsewolod Tschernow, räumte ein, dass es zu einigen „Rauheiten“ gekommen sei, Gesetzeverstöße hätte man bei den Säuberungsmaßnahmen jedoch nicht zugelassen. Über Zozin Jurt, so berichtet Memorial, hänge seit Tagen der Gestank verbrannter Körper und Verwesungsgeruch.

Dass die russische Armee durch ihr barbarisches Vorgehen den Zulauf der islamistischen Rebellen fördert, ist längst bekannt. Unklar ist, ob dies bewusst geschieht, um den Konfliktherd am Kochen zu halten. Denn der Krieg im Kaukasus ist in erster Linie ein Bereicherungsfeldzug der russischen Militärs, die an der Beilegung des Konflikts kein Interesse haben.

Bisher unbestätigt bleiben tschetschenische Augenzeugenberichte, die den Oberbefehlshaber der russischen Armee in Tschetschenien, General Wladimir Moltenskoi, bei der Operation in Zozin Jurt gesehen haben wollen.

Präsident Putins Strategie, der westlichen Anti-Terror-Allianz beizutreten, hat sich für den Kreml im Kaukasus zumindest bezahlt gemacht. Aus der Sicht des Westens offensichtlich ein guter Deal. KLAUS-HELGE DONATH