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Was ist da drin? Eva Corinos „Taschenbuch“
: Originalität und Alltag

Es hat etwas Brillantes, wenn junge Journalistinnen auf die Straße gehen und wissen wollen, wie es denn so bestellt ist um die Welt. Dabei handelt es sich bei diesen Erlebnishungrigen oft um Töchter aus höherem Hause, die eigentlich bürgerliche Ziegen hätten werden sollen. Wenn schon Journalismus, dann hatte man von ihnen erwartet, dass sie ins Feuilleton gehen und zum Beispiel Kunstkritikerin werden.

Eva Corino, Jahrgang 1972, ist eigentlich genau eine solche Theaterkritikerin bei der Berliner Zeitung. Sie sieht toll aus, ist erfolgreich, gehört aber genau zu den Frauen, die sich immer mal wieder von ihrem Image befreien müssen. Deshalb hat sie für die Berliner Zeitung eine Serie mit kurzen Porträts geschrieben, Porträts von Menschen, die sie auf der Straße angesprochen, nach dem Inhalt ihrer Tasche gefragt hat und sich von ihnen einen Ausschnitt ihres Lebens hat erzählen lassen.

In der Einleitung zu ihrem gerade erschienen „Taschenbuch“, in dem diese Porträts nachzulesen sind, schreibt Eva Corino wie zur Bestätigung, sie müsse immer unter Leute, „weil ich mich am lebendigsten fühle, wenn ich zuhören kann“. Ihre Mutter habe immer von ihr verlangt, „sich mit geistiger Besonderheit zu kleiden“, erzählt sie. Sie beschreibt ihr Anliegen, Wirklichkeit einzufangen, derart verblümt, dass man sich freut, dass sie gleich dran ist, die Wirklichkeit: „Ich habe meine Zeit und meinen Ort angeklagt und hätte mich doch selbst anklagen müssen, weil ich nicht fähig war, die Reichtümer der Alltags zu rufen.“

Und was ist das für ein Alltag, den sie ruft? Eva Corino hat Berliner Semiprominenz dazu bewegt, kurz innezuhalten, sie hat zum Beispiel Otto Sander vom tollen Wollstoff seiner Anzüge schwadronieren, Michael Naumann von Schillers „Ästhetischen Briefen“ philosophieren lassen, das Tristesse-Royale-Mitglied Alexander von Schönburg faselt vom Fasten, und Kurt Scheel schwärmt von seiner Katze. Dann gibt es eine Menge von diesen tausend Berlinern, die in ihren kreativen Nischen um die Wette bosseln. Einer erzählt von seinem Restaurant, wo es nur japanische Ramen-Nudelsuppen gibt, ein Taschendesigner redet vom „radikalen Hedonismus unserer Generation“.

Eva Corinos größte Liebe gilt den so genannten Berliner Originalen, den Abgestürzten, den Tragischen, den Alten, die ihr Alter verachten, den zahnlosen Obdachlosen, Leuten wie der Nachtigall von Ramersdorf, die die wildesten Legenden um ihre Vita strickt. Und doch stellt sich gerade bei diesen Porträts am nachdrücklichsten das Problem des Voyeurismus. Was ist es, das einen gerade an solchen Stellen gierig weiterlesen lässt?

Eva Corino gewinnt noch der letzen Hausfrau, dem letzten grauen Rentner etwas Originelles ab. Und vielleicht ist genau das der kleine Haken am „Taschenbuch“, das man gespannt von der ersten bis zur letzten Seite liest, ohne ein einziges Porträt auszulassen: dieser stets optimistische, immer gut gelaunte und leicht esoterische Gestus, der sogar enthusiastisch auf die Brotkrümel unterm Küchentisch aufmerksam macht, weil er meint, selbst die könnten noch Wunder was erzählen – die Auffassung vom Berliner Alltag als reinstem Abenteuerspielplatz. Der Alltag, wie er wirklich ist, fad und trüb, ereignislos und langweilig, die Art von Alltag, die einem in Berlin eigentlich andauernd vor den Kopf stößt, kommt in diesem Buch nicht vor. Aber das ist es eben einfach nicht, nach dem Eva Corino, die eine bürgerliche Ziege hätte werden sollen, auf der Jagd war.

SUSANNE MESSMER

Eva Corino: „Taschenbuch“. Berliner Taschenbuch Verlag 2001, 164 Seiten, 8,40 €