Roter Trumpf gegen die Tristesse

Es ist keine vornehme, mehr eine Vornamengegend: Zwischen Undine- und Kriemhildstraße liegt der Friedhof Friedrichsfelde. Alljährlich wird dort im Januar das Rote-Nelken-Schauspiel gegeben, wenn Tausende zum Gedenken an die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht kommen

Im Westen ist die Nelke eine tote Blume, sagen die Händler auf dem Großmarkt

von WALTRAUD SCHWAB

Karl und Rosa sind in einer Vornamengegend begraben. Auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde an der Kreuzung von Gudrun- und Rüdigerstraße, unweit von Ortlieb, Dankwart und Hagen, von Siegfried, Gunther und Dietlinde. Ein Nibelungendschungel ist es; ein Ort, der sich an einen alten Stadtrand lehnt und vergangene Tragik mit dem Rauch der Ofenheizungen von heute vermischt.

Grau liegen die Straßenzüge zwischen dem Bahnhof Lichtenberg und dem Friedhof. Rechts schützt ein Zaun vor den Gleisen; links sind die Häuser und ein winterleerer Platz. Dazwischen liegt die Grudrunstraße, die über Schlaglöcher von vorjährigem Schnee führt.

Die Gegend hat den Januar das ganze Jahr über gepachtet. Ein abgeräumtes Schlachtfeld ist es, das sich bis heute die Wunden einer Geschichte leckt, die hier nicht stattgefunden hat. Ein Spartakusaufstand wird sich niemals bis vor den Friedhof verirren, eine Nelkenrevolution macht an diesem Ort keinen Sinn.

Trotzdem aber kommt Geschichte hier an. Dann, wenn sie zu Ende ist. Wie damals 1919, als 31 Opfer des Januaraufstandes, darunter Karl Liebknecht, und der leere Sarg von Rosa Luxemburg auf diesem Armenfriedhof in die Erde gelassen wurden. Niemand wollte die beiden Vordenker der revolutionären Bewegung in Deutschland im Tod trennen. Tatsächlich wurde Luxemburgs Leiche erst vier Monate nach der Beerdigung aus dem Landwehrkanal gefischt. Im Juni desselben Jahres wurde sie wirklich begraben.

Die Bestattungen von 1919 waren beeindruckende Massendemonstrationen; die Jahrestage der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts im Januar sind es bis heute. Für ein paar Stunden herrscht in der Wintergegend Aufregung. Hunderttausend kommen, so wird auch dieses Jahr wieder geschätzt. Die meisten bringen rote Nelken mit. Wie ein Petticoat spreizen sich die ausgefransten Blütenblätter der Blumen, und trumpfen mit ihrer Röte. Für einen Tag wird die Tristesse von der Feuerwehrfarbe, der Lippenstiftfarbe, der Coca-Cola-Farbe erhellt. Dabei geht es nicht um die Blume, sondern um ihre Symbolik. Denn als könne sie sprechen, erzählt sie vom Rückwärtsgewandten, von Weltschmerz, von utopischer Sehnsucht und unterdrückter Wut, die nicht wenige der Demonstranten hierher treibt.

Nelken sind Modeblumen, um die sich Geschichten ranken. Mal geht ihr der Ruf voraus, Aphrodisiakum zu sein. Prompt findet sie sich auf Brautbildern wieder. Aus Sagen ist zu erfahren, dass Nelken aus dem Blut unschuldig Getöteter sprießten.

Hinzu kommt: Wer sie pflückt, der ziehe den Blitz an, und wer sie auf Gräbern abreißt, der höre, wenn er den Kopf auf den Grabhügel lege, in der Erde ein dumpfes, dreimaliges Klopfen. Französische Royalisten bescherten der Pflanze in der Neuzeit ein Comeback. Sie trugen rote Nelken als Zeichen ihrer Königstreue auf dem Weg zur Guillotine. Erst Hundert Jahre später eroberten sich die Sozialisten die Blume.

Wenig verwunderlich daher, dass sich an Nelken noch heute die Teilung der Stadt zeigt. Im Westen ist sie „eine tote Blume“, wie Händler vom Großmarkt in der Friedrichstraße im ehemaligen Westteil Berlins sagen. Niemand kaufe sie, niemand verschenke sie, niemand wolle sie haben. Dabei sei sie robust. Wohl aber sperre sie sich gegen die Postmoderne, die mittlerweile bei den Floristen angekommen ist. „Alles Mögliche wird nun in die Blumenbouquets gebunden: Schnuller, Zahnbürsten, Bleistifte, Armreifen, Schnaps.“ Mit Nelken gehe das nicht. „Sie sind zu eigen. Sieht nicht gut aus.“

Rund um den U-Bahnhof Lichtenberg im Osten dagegen wird die Abneigung gar nicht verstanden. „Alle Blumen welken, nur nicht Rosas Nelken“, sagt ein Mann, der am Sonntag auf jeden Fall dabei ist. Warum Rosa? „Mädchen, guck dir meinen Hund da an. Weißt du, wie der heißt? Liebknecht heißt der. Und weißt du, wie meine Katze heißt. Da kommst du nicht drauf. Die heißt Luxemburg. Verstehst du mich jetzt?“

Fast jeder in der Gegend, einer früheren Hochburg der Stasi wohl, hat was zu der Blume zu sagen. Meist hat es mit Liebe zu tun. Deshalb werden Griesgrämige freundlich, sobald sie den Weg zum Friedhof zeigen dürfen. „Da da hinten. Immer geradeaus.“ Aus einem Sprich-mich-nicht-an wird ein Ich-trage-Sie-auf-Händen-dahin. Am Sonntag demonstrieren sie. Nelken haben alle dabei. Woher die kämen? „Sie werden am Straßenrand verkauft.“

Alle Blumenhändler in der Nibelungengegend bestätigen, dass Nelken das ganze Jahr über gut gingen. Und rote? „Ja, wegen Karl und Rosa. Da müssen Sie sich mal fein mit dem Kommunismus beschäftigen“, belehrt eine der Floristinnen. Karl und Rosa seien auf den Barrikaden gestorben, erläutert sie. „Auf welchen Barrikaden?“ Sie wischt die Frage mit Verve beiseite. „Im Gefängnis, auf den Barrikaden – ist doch alles dasselbe. Wie viele brauchen Sie nun?“

Auf der „Gedenkstätte der Sozialisten“, einem mit Backsteinen eingefassten Hügel auf dem Friedhof, in dessen Mitte ein hoher, stelenartiger Granitblock mit den Namen berühmter Arbeiterführer steht, werden die Blumen abgelegt. Ein roter Teppich aus gebrochenen Nelken entsteht und jeder, der das Ohr auf den Hügel legt, wird das Herzklopfen hören.

„Hingehen ist Opposition“, sagt ein Paar, das den Friedhof für seinen täglichen Spaziergang nutzt. Schon wieder kommt die Geschichte hier an, wenn sie vorbei ist.