Das New York Chinas

Schanghai gilt als westlichste Stadt der Volksrepublik. Architektur, Kunst und Nightlife orientieren sich am Big Apple. Viele Besucher aus dem Westen fühlen sich heimisch – etwa wenn sie die vielen Wolkenkratzer im Art-déco-Stil sehen

von GEORG BLUME

Neulich im Dezember wollte mir ein guter chinesischer Freund, der an der Spitze der Niederlassung einer bekannten deutschen Firma an der Huaihai Road reüssiert, seine Heimatstadt Schanghai zeigen. Er führte mich ins italienische Restaurant im „höchsten Hotel der Welt“, im „Hyatt“ im Jingmao-Tower. Doch über dem neuen Finanzviertel Pudong schüttete es, der Ausblick aus dem 56. Stock war düster und die Pasta weich gekocht.

Spätabends gelangten wir in die stadtbekannte Designbar „M on the Bund“ am alten Schanghaier Bund, der kolonialen Prachtallee entlang des Huangpu- Flusses. Doch die goldene Theke des Yuppielokals war leer, und der schlecht gelaunte Kellner wollte nicht verstehen, was ein Irish Coffee ist. So bekam ich einen selten unspektakulären Eindruck von der chinesischen Wunderstadt an der Mündung des Jangtse, spürte auf einmal das Aufgesetzte ihres neureichen Glanzes und ihrer westlichen Sitten.

Schanghai, dachte ich, ist eben doch noch nicht das New York Chinas, so wie es mir die in elegantes Schwarz gekleidete Führerin bei der Besichtigung der neuen Börse am Morgen erklärt hatte. Und doch besteht kein Zweifel: So wie New York wird die Stadt sein – wenn nicht heute, dann eben morgen.

Vielleicht liegt es an der Liebe der Schanghaier zu ihren Wolkenkratzern. Errichtet im Art-déco-Stil von zumeist westlichen Bauherren während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, überragen sie Schanghais altes Finanzviertel Puxi auf der rechten Seite des Huangpu. Kunstvernarrten Chinesen gelten die Hochhäuser von damals als Denkmäler, für den westlichen Besucher stellen sie inmitten der Fremde eine eigentümliche Vertrautheit her.

Dieses Gefühl begleitet den Europäer durch Schanghai wie durch keine andere Metropole des Fernen Ostens. Steht er am Bund-Ufer mit seiner berühmten Zeile ehemaliger ausländischer Banken, Clubs und Handelshäuser und schaut von Puxi über den Fluss nach Pudong, so sieht er etwas ganz Anderes als die Millionen Chinesen, die hier Woche für Woche flanieren, um in Chinas Zukunft zu schauen. Für sie türmt sich drüben am anderen Ufer der Reichtum einer neuen Epoche auf, in der ihr so lange Zeit gedemütigtes Land wieder Weltmacht ist wie einst die großen Kaiserreiche – mit der Börse, die im Stil des modernen Pariser Triumphbogens im Stadtteil La Defense erbaut wurde, mit dem Jingmao-Tower als dem höchsten Haus der Volksrepublik und mit dem Fernsehturm „Orientalische Perle“, den manch chinesisches Kind auf den ersten Blick für eine startbereite Mondrakete hält.

Kein Zweifel, die neue Skyline von Schanghai beeindruckt. Doch Überraschungen birgt sie nicht. Als „großes phallisches Ungeheuer von wahrhaft monumentaler Hässlichkeit“ beschrieb der holländische Schriftsteller Ian Buruma den von den Chinesen so geliebten Fernsehturm. Mich erinnert er immer an seinen sozialistischen Bruder auf dem Alexanderplatz in Berlin. Und schon wirkt Schanghai wieder seltsam vertraut. Sind es die zahlreichen, sorgsam gepflegten Platanenalleen, die einst die französischen Kolonialherren in Puxi anlegten und die Stadt in allem orientalischen Trubel so europäisch geordnet erscheinen lassen? Oder ist es die strenge, ornamentlose Moderne von Pudong, die jeden Verweis auf eigene Traditionen ablehnt und das Profil des neuen Schanghai so unchinesisch wirken lässt? Nicht einmal ein Stöbern in der bewegten Geschichte der Stadt führt auf exotische Fährten.

Für den Besucher von gleichwohl allergrößtem Reiz ist ein Gang durch Hongkou, das alte Hafenviertel mit seinen heruntergekommenen Kolonialbauten in Sichtweite des Bund-Ufers. Hier steigen die Ärmsten der Armen ab, die Seefahrer, die Wanderarbeiter, die Landflüchtlinge – heute wie damals in den Jahren 1938 bis 1945.

Damals war Hongkou ein deutsch-jüdisches Viertel. Die Kinder im Haus Nummer 59 an der Zhouschan-Straße wissen das. „Es war gut, dass die Juden früher in unserem Haus leben durften, denn sie wurden von Hitler doch gejagt“, sagt die 16-jährige Schülerin Xu Shenghao.

Xu erinnert an das Exil von zwanzigtausend Juden, die nach 1938 vor ihren nationalsozialistischen Verfolgern nach China flüchten konnten, wo ihnen die Schanghaier Bevölkerung, die noch unter Verwaltung der Kolonialmächte stand, bereitwillig Schutz bot. In der weißrussischen Synagoge von Hongkou zeigt heute ein kleines Museum Schwarzweißbilder aus dieser Zeit.

Ganz andere, überaus farbenfrohe Bilder stellt die „ShanghART“-Galerie im Fuxing-Park aus. Sie ist klein, aber fein und eine der wichtigsten Stätten für die Avantgardekunst im ganzen Land.

Wer es ein paar Jahre später bis auf große europäische Kunstausstellungen schafft, hat meist hier, unter der Ägide des Schweizer Galeristen Lorenz Helbling, seine ersten Werke dem Publikum dargeboten. Ein Gang mit Helbling durch die Lager seiner Kunst gleicht einer Besichtigung des modernen chinesischen Innenlebens. Ruhe, Ausgeglichenheit oder auch nur ein wenig traditionelle Ästethik sucht man in den Werken der meist jungen Schanghaier Künstler vergeblich. Zerrissenheit, Aggressivität und westliche Stilvariationen von der Pop-Art bis zu den Neuen Wilden aber findet man überall – vertraute Ansichten also auch hier. „Ein Händler sollte keine eigene Meinung haben“, steht auf einem alten fotografischen Werk des inzwischen weltbekannten Künstlers Zhou Tie Ai. Zhou wollte damit seinem Schweizer Galeristen ein ironisches Kompliment machen: Denn der „Händler ohne Meinung“ ist eine Umschreibung des typischen Schanghaiers, der für seine Geschäftstüchtigkeit gefürchtet und für seine Kulturlosigkeit verachtet wird.

Wahrer Schönheit begegnet man in Peking im kaiserlichen Sommerpalast, in Hangzhou am romantischen Westsee oder in Sichuan beim Anblick des Großen Buddhas. In Schanghai ist sie nicht zu finden. Gerade das aber macht die Stadt interessant. Sie lebt heute schon von der Begegnung mit der westlichen Moderne und ist auf der Suche nach einem Stil, der China und die Welt vereint. Das braucht Zeit, hat aber Zukunft.

Wie das Ungleichartige eines Tages zusammengefügt werden kann, erlebt man heute schon in Xin Tiandi, einem jüngst renovierten Altbauviertel an der Tai Cang Road, das einige der derzeit meistbesuchten Bars und Livemusik-Spielstätten Schanghais beherbergt. Neben „Starbucks-Café“ und „Paulaner-Brauhaus“ finden sich hier von chinesischen Designern eingerichtete Gaststätten wir die „DR-Bar“, in der man westliche Möbel mit japanischem Wanddesign und chinesischer Kunst kombinierte und damit eine coole, klassische Atmosphäre schuf, die alles auch für unsere Wahrnehmung Vertraute durchbricht.

An der Theke der „DR-Bar“ hockt ein taiwanischer Architekt, der in der ehemaligen japanischen Botschaft lebt und Wolkenkratzer konstruiert. Ihm mag man endlich glauben, dass Schanghai das New York des 21. Jahrhunderts sein wird. „Irgendwann“, sagt er, „wird die ganze Welt Schanghai lieben.“

Adressen: „DR-Bar“, No. 15 Xin Tiandi North Part Lane 181 / Tai Cang Road, Tel.: (0 21) 63 11 03 58„ShanghART“, Park 97, Gaolan Road 2A (Fuxing-Park), Tel.: (0 21) 63 59 39 23„M on the Bund“, 7/F, No. 5 The Bund (Ecke Guangdong Lu)