Nach Ihnen, Herr Stoiber

Angela Merkel verzichtet darauf, bei der Bundestagswahl gegen Gerhard Schröder anzutreten. Jubel und Respekt bei den Mitstreitern der CDU

aus Magdeburg PATRIK SCHWARZ

Drinnen im Saal spricht Angela Merkel noch, da wird sie draußen schon beerdigt. „Ein schwerer Tag für Angela Merkel“, sagt ein Fernsehreporter in seine Kamera, „unter dem Druck ihrer eigenen Partei musste sie in Magdeburg das Handtuch werfen.“ Ein Zeitungskorrespondent tippt in seinen Laptop schon den Aufmacher von morgen: „Das Rennen um die Kanzlerkandidatur in der Union ist entschieden.“ Noch ist das nur eine Behauptung, durch nichts Festeres gedeckt als die dichter werdenden Gerüchteschwaden im backsteinernen Hotel „Herrenkrug“, wo CDU-Präsidium und -Bundesvorstand zu einer zweitägigen Klausur zusammengekommen sind.

Dann, um kurz nach fünf, tritt die Totgesagte vor die Kameras – mit einer Überraschung, wie sie die CDU in ihrer rund 50-jährigen Geschichte nicht erlebt hat: Angela Merkel tritt ab, um wieder aufzuerstehen.

Nach einer Woche, in der sich immer mehr Parteifreunde auf die Seite von CSU-Chef Edmund Stoiber geschlagen haben, verzichtet die CDU-Vorsitzende auf den Anspruch, im Herbst 2002 erste Kanzlerin der Bundesrepublik zu werden.

Wenn man nach ihrem kurzen Auftritt vor der Presse urteilt, ist Merkel trotzdem vor den Granden ihrer Partei nicht als Verliererin aufgetreten. „Ich habe heute morgen Edmund Stoiber in Wolfratshausen besucht und mit ihm gemeinsam gefrühstückt.“ Schon der erste Satz enthält alles, was eine Frau braucht, um den Männern in der CDU zu imponieren: Tatkraft, Tapferkeit – und die Bereitschaft zum Verzicht. „Dank und Hochachtung und Anerkennung für den Mut von Frau Merkel“, jubelt der Stoiber-Freund, Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel, hinterher. „Wir haben bei diesem Frühstück vereinbart, dass Edmund Stoiber der Kanzlerkandidat der Union für die Bundestagswahl 2002 ist“, fährt Merkel fort. „Sie ist unverzichtbar, sie ist die wichtigste Person in der CDU Deutschlands“, schwärmt Christian Wulff, der zuvor ewig untentschiedene CDU-Vize aus Niedersachsen. „Ich habe diesen Vorschlag entsprechend unserem Beschluss des Dresdner Parteitags dem CDU-Bundesvorstand unterbreitet, und er ist einstimmig akzeptiert und bestätigt worden.“ „Allergrößter Respekt!“, „außerordentlich große Souveränität!“, sprudelt es aus dem Mund von Stoiber-Freund und Unions-Fraktionschef Friedrich Merz, der findet Merkel sei jetzt „stärker als sie jemals war“.

Ob Merkel nur Schadensbegrenzung betreibt oder tatsächlich in Magdeburg zu einer Bedeutung für ihre Partei fand, die sie womöglich bis zur Kanzlerkandidatur 2006 trägt, ist an diesem Abend nicht auszumachen. Doch die erfahrene Taktikerin hatte immerhin vorgebaut, ihren Rückzug nicht als totalen Reinfall erscheinen zu lassen. Stets beharrte sie in den letzten Wochen darauf, die Entscheidung über die Kanzlerkandidatur müsse einem Zweiergespräch zwischen ihr und Stoiber vorbehalten sein. Fast alle CDU-Vorstandsmitglieder, die gestern in Magdeburg eintrafen, gingen von einem Termin kurz nach der Klausurtagung aus – tatsächlich hatte die Unterhaltung längst stattgefunden, als die Vorsitzende gegen 14 Uhr im „Herrenkrug“ eintraf. Beide Parteichefs sagten am Freitagvormittag Termine ab, Merkels Name stand auf der VIP-Liste des Münchner Flughafens, Stoiber soll bereits am Nachmittag Interviewtermine für den Abend verteilt haben. Das Überraschungsmanöver passt zu der Taktikerin an der CDU-Spitze: Will sie in Zukunft als starke Spielerin in der Partei und im Land gelten, muss sie um jeden Preis den Eindruck vermeiden, eingeknickt zu sein.

Ob Merkel ursprünglich die Kanzlerkandidatur ernsthaft anstrebte und wann sie sich womöglich zum Verzicht entschied, ist nach den letzten zehn Tagen der Ränke und Gegenränke kaum mehr auszumachen. Selbst vor den wartenden Kameras zu Beginn der Sitzungen im Herrenkrug legte sie dieselbe Heiterkeit an den Tag, die das Lager ihres Konkurrenten von der CSU bis zuletzt verunsichert hat.

Hinter ihr liegt eine Woche der Offensive, von der manche zu Anfang annahmen, sie sei nur taktisch motiviert, solle symbolisch den Anspruch der großen Schwesterpartei CDU auf den Spitzenjob demonstrieren oder vielleicht sogar den persönlichen Preis für einen Verzicht hochtreiben. Doch nachdem Ich-bin-bereit-Interview der Welt am Sonntag, dem Charmeauftritt in der Kuschelshow „Beckmann“ am Montag und strategischen Folgeinterviews im Lauf der Woche wurde selbst Stoibers Mannen wieder bang. So undurchschaubar waren die Absichten hinter den Worten in dieser Woche, dass sich kurz vor dem Ende sogar die Hauptperson aufs kurioseste verhaspelte: „Alles wird so abgelaufen“, sagte sie bei ihrer Ankunft im Herrenkrug in einer Mixtur aus Zukunft und Vergangenheit, „wie wir es besprochen haben.“ Da war ja auch alles schon entschieden.