An der Gegenwart gescheitert

■ Jannis Klasings „Nicht nichts“ im Neuen Cinema

Eine einsame Straße, im Hintergrund rauschen auf einer Leinwand Autos vorüber. Es ist Nacht. Nina, das Mädchen, das wie eine Herumstreunerin aussieht, mit unzähligen blonden Zöpfen, Turnschuhen, Kapuzenshirt und Lederjacke, wartet. Sie wartet auf einen Anruf, und weil sie sonst niemanden zum Reden hat, spricht sie mit ihrem MD-Player. Über ihr Leben, die Mutter, die als Bibliothekarin in der Kleinstadt gearbeitet hat, wo Nina aufgewachsen ist. Bis die Familie in die Großstadt „transplantiert“ wurde, weil der Vater sich beruflich verbesserte und die Mutter auch – „mit einem Künstler“. Es sind unerbittliche Worte, geradeaus gesprochen. Eindrucksvoll artikuliert von Mira Bartuschek. Sie tobt, keift, rennt sich krümmend über die Bühne, immer kurz vor der Explosion.

Nicht nichts heißt das bewegende kurze Drama. Und es enthält das ganze Leben in einem 50 Minuten dauernden Augenblick. Den Autor kennt man nicht. Noch nicht. Jannis Klasing ist erst 17 Jahre alt, Schüler aus Hannover, und gehörte zu der Gruppe junger Nachwuchstalente im Alter von 16 bis 18, die am Autorenprojekt Schreibtheater/Nachwuchstexte des Schauspielhauses im Sommer teilgenommen hatten. Unter der Anleitung des Theaterpädagogen Michael Müller und des britischen Autors David Spencer wurde dort an Sprache und dramatischem Aufbau gefeilt. Klasing begeisterte sofort alle mit seinem Text, und fortan fahndete Spencer nach einem Regisseur für ihn. Er fand ihn im 23-jährigen Sebastian Schlösser, bislang Regieassistent am Deutschen Schauspielhaus. Und auch er hat bei der Premiere im Neuen Cinema ordentliche Arbeit geleistet. Man sitzt nur da und staunt über so viel Engagement, Spielfreude und Tiefenschärfe, die andernorts bei gestandenen Theaterleuten mitunter fehlt.

Klasings Dialoge haben eine eigenwillige Sprache, bilderreich und doch die Wirklichkeit genau sezierend. In jedem Fall höchst bemerkenswert für einen Heranwachsenden. Die Familie versucht „die Flucht nach vorn in die Bürgerlichkeit“. Zumindest bei Nina ist das wohl misslungen. „Kennst du das Gefühl, vor Fremdheit zu ersti-cken“, fragt sie Tom, der zufällig vorbeikommt und bleibt. Der junge Josef Heynert gibt auch ihm eine lodernde Leidenschaft, strahlt eine sprühende Spiellust aus, die ansteckend ist. Nach einer gemeinsam draußen verbrachten Nacht reißt sich Nina los. Nina hat jedes Vertrauen verloren. Vergangenheit und Gegenwart sind schäbig, eine Zukunft gibt es nicht. Mit Mitte 20 glaubt sie alles hinter sich zu haben.

Tom hatte den Gedanken an das Glück auch schon aufgegeben, doch jetzt liebt er sie. Und sie entzieht sich. Er will für sie sorgen, sie warm halten, und wenn er ihr dafür sämtliche Jacken überzieht. Das sind rührende und manchmal komische Momente. „War es etwa nichts?“, fragt er sie. „Nein nichts“, antwortet sie. Und natürlich war es nicht nichts. Sie spüren den Augenblick des Scheiterns. „Glaubst du, wir können irgendwo neu anfangen, ohne Angst zu haben?“, fragt Nina Tom. Sie kann es nicht. Und er wird eine schreckliche Konsequenz daraus ziehen. Aber eine folgerichtige. Annette Stiekele

nächste Vorstellungen: 16., 21. Januar, 11 Uhr, Neues Cinema