Mahlers Fragment

■ „Dem Jenseits nahe“: Günter Neuhold beendet seinen Mahler-Zyklus mit der Rekonstruktion der unvollendeten „Zehnten“ Sinfonie

Gustav Mahler meinte einmal, die Musik stehe nicht in den Noten, sondern zwischen ihnen. Wie viel schwerer mag es dann für Interpreten sein, wenn es sich um eine Musik handelt, deren Niederschrift schon interpretiert, also „erraten“ ist. Denn seine 10. Sinfonie (1910) hinterließ der Komponist als ein riesiges Fragment, von dem nur der erste, überdimensionale Adagio-Satz komponiert wurde. Aus den Skizzen hat der englische Musikwissenschaftler Deryck Cooke in mehreren Anläufen von 1960 bis 1976 fünf Sätze fertiggestellt: Vorhanden waren 72 Partiturseiten, 93 Entwurfsseiten, die kompletten Formenaufbau festlegen und Angaben zur Instrumentation, an der auch noch der Komponist Bertold Goldschmidt mitarbeitete.

Ob, was so lange währt, dann auch endlich gut wird, daran darf nach der jetzigen Aufführung durch das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Günter Neuhold gezweifelt werden. Die knapp eineinhalbstündige Aufführung war zwar beeindru-ckend und auch tief bewegend, hat aber nicht annähernd den Spannungsbogen, den alle anderen Sinfonien von Mahler aufweisen. Vieles klingt bemüht, nach Notlösung, wobei zu Cookes Verteidigung gesagt werden muss, dass er im Unterschied zu anderen späteren Fassungen nicht mehr wollte, als das Fragment hörbar zu machen.

Prominentester Gegner einer Instrumentierung war damals der Dirigent Bruno Walter, der sich auf Mahlers letzten Willen bezog: Die Skizzen sollten vernichtet werden. Das tat Mahlers Witwe Alma Mahler glücklicherweise nicht.

Arnold Schönberg und Dimitri Schostakowitsch haben es abgelehnt, die Partitur zu vollenden. Zu gewaltig geisterte nach neun Sinfonien von Beethoven, Schubert und Bruckner auch der Aberglaube, dass „die Neunte eine Grenze“ sei, wie Schönberg meinte: „Wer darüber hinauswill, muss fort. Es sieht so aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden konnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits nahe“.

Lässt man diese Bedenken gelten, so hat die Fassung aber durchaus ihren Sinn, denn durch die fünf Sätze wird die Verklammerung der beiden Adagio-Ecksätze deutlich. Im ersten Satz gibt es jenen berühmten Neuntonakkord, der in einer gleichsam tröstenden Geste endet. Dieser erklingt auch im letzten Satz. Und die Qualität der Wiedergabe des ersten Satzes - mit Ausnahme einiger ungenauer Einsätze - lässt vermuten, dass es tatsächlich die Rekonstruktion ist, die letzt-endlich nicht befriedigen kann, auch wenn man nicht umhinkann, die Wiedergabe in Bremen als ein Ereignis zu bezeichnen. Erinnern wir uns auch daran, dass bei Neuholds Aufführung der dritten Mahler-Sinfonie, aber auch der ers-ten, der zweiten und der sechsten von Mahler der Beifall nicht enden wollte. So mag die jetzige vergleichsweise laue Reaktion ebenfalls ein Zeichen dafür sein.

Neuholds ebenso analytischer wie zutiefst emotionaler Mahler-Stil meißelt hart Kontraste heraus, schaft riesige Bögen und Zusammenhänge bis zum ergreifenden Schluss-Pianissimo und erinnert suggestiv an die biographische Grundlage dieser Komposition: Resignation, Tod, Abschied, vom Leben, von seiner Frau: „Leb‘ wol, mein Saitenspiel!“, schrieb Mahler über den Schluss des vierten Satzes“ und „für dich leben! für dich sterben“ in die Coda des Finales.

Ute Schalz-Laurenze