Despot oder Weltenbürger?

Die NDR-Dokumentation „Atatürk – vom Rebellen zum Befreier“ (23.00 Uhr) bleibt angenehm altmodisch

Wer heutzutage eine Geschichtsdokumentation über ein islamisches Land drehen will, tritt einen harten Job an. Gleich zwei Probleme gilt es zu bewältigen: Zum einen muss sich der Filmemacher gegen das Gemisch aus Pulverdampf und Tränenfluss behaupten, das Guido Knopps simulierte Schlachtentableaus verströmen – zur Zeit lässt der Historik-Zampano vom ZDF dienstags um 20.15 sein Publikum den „Jahrhundertkrieg“ von pittoresk verrauchten Brücken absaufender Kreuzer miterleben. Zum anderen sieht sich der Doku-Filmer mit einer Flut von Berichten konfrontiert, in denen die islamische Welt durchleuchtet wird. Schließlich herrscht nach den Ereignissen vom 11. September bei den Zuschauern weiterhin das Bedürfnis, die Seele des Islam zu begreifen.

Und das bitte möglichst schnell. Der Kriegsberichterstatter Peter Scholl-Latour half da mit unzähligen martialischen Wortbeiträgen nach.

Wie muss vor diesem Hintergrund eine Dokumentation über den türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk aussehen? Am besten so wie diese NDR-Produktion: trocken, bildungsbeflissen – und angenehm altmodisch.

In seinem Zweiteiler, den er schon vor dem 11. September in Angriff genommen hat, setzt Regisseur Halil Gülbeyaz den Knopp’schen Kriegsszenarien eine Fülle von Fakten entgegen, und statt der immer gleichen hiesigen Islamexperten befragt er türkische Historiker. Sicher, die Datenflut, die sich im ersten Teil über das Publikum ergießt, ist viel Stoff für 45 Minuten. Doch er ermöglicht dem Zuschauer die diversen Wahrnehmungsmöglichkeiten des wiedersprüchlichen Politikers nachzuvollziehen – als Demokrat oder Despot, als Weltenbürger oder Nationalist.

Detailgenau wird gezeigt, wie „der Vater der Türken“ nach dem Ersten Weltkrieg aus den Trümmern des Osmanischen Reichs einen weltlichen türkischen Staat zu formen versuchte. Dass der Idealist dabei als eiskalter Stratege auftrat, wird spätestens durch den Bevölkerungsaustausch deutlich, den er nach dem Sieg über die Griechen 1922 mit dem Nachbarland vereinbarte. Über eine Millionen Griechen wurden dabei aus ihrer Heimat vertrieben. Die ersten ethnischen Säuberungen der Geschichte. Um den Nationalstaat nach westlichem Vorbild zu errichten, wurde die Realitäten innerhalb des Vielvölkersgebilde geleugnet: Andere Ethnien wurden zwangsassimiliert – oder existierten ganz einfach nicht. Kurden nannte man nach dieser Logik „Bergtürken“. In der Doku wird den Leiden nichttürkischer Volksgruppen, den niedergebombten Aufständen von Armeniern oder Kurden, nur einige kurze pointierte Passagen gewidmet. Das ist in Ordnung, erfordert aber ein ausgeschlafenes Publikum.

An melodramatischen Verdichtungen ist Regisseur Gülbeyaz also nicht gelegen – wohl auch deshalb, weil er selbst kurdischer Abstammung ist. Stattdessen beschreibt er nüchtern die grotesken Formen, welche die manische Modernisierung annahm. Und die ebenso tyrannischen Züge trug wie die Verfolgung der Minderheiten: Denn die Verwestlichung brachte nicht nur Errungenschaften wie das Frauenwahlrecht mit sich, das die Türkei schon vor Frankreich eingeführt hat, sondern führte mit der Kleiderreform auch zum Zylinderzwang. Wer weiterhin den traditionellen Fes auf dem Kopf trug, riskierte zum Tode verurteilt zu werden.

So verwandelt sich das Politikerporträt zur Sittengeschichte eines Landes, das bis heute an seiner Zerrissenheit leidet. Ein spannender Film, auch und gerade wenn man neben sich keine Granaten einschlagen hört.CHRISTIAN BUSS

(Teil 2: Mi, 23.1., 23 Uhr, NDR)