Von der Systematik des Tötens

Bertholets faRbEn über Frauen und Wissenschaft im Ersten Weltkrieg  ■ Von Karin Liebe

Eine Frau, Mitte 40, tötet sich in einer Mainacht des Jahres 1915. Sie untersucht die Dienstwaffe ihres Mannes, gibt einen Probeschuss in die Hand ab, dann erst schießt sie sich ins Herz. So beginnt Mathieu Bertholets Stück faRbEn, und damit endet es auch. Diese Frau hat es gegeben, und genauso systematisch hat sie ihren Tod vollzogen. Die Wissenschaftlerin Clara Immerwahr war mit dem jüdischen Chemiker Fritz Haber verheiratet, der 1918 den Nobelpreis erhielt und der die Entwicklung und den Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg vorantrieb. Auch Clara war promovierte Chemikerin, die erste an der Universität Breslau, doch bald stellte sie ihre Karriere hinter Ehe und Familienleben. „Es geht um Frauen, Krieg, Wissenschaft, und diese Geschichte ist so unglaublich wie das Leben.“ So beschreibt Autor Bertholet, 1977 in der Schweiz geboren, sein Stück.

Es ist jetzt erstmals (und leider nur einmal) im Malersaal als szenische Lesung zu erleben. Mit der Kurzfassung des Stücks hat der seit 1997 in Berlin lebende Autor und Student des Fachs „Szenisches Schreiben“ an der Hochschule der Künste schon im letzten Frühjahr einen Preis gewonnen. Mit Anne-Kathrin Schulz und Anne Jelena Schulte teilte er sich den mit insgesamt 10 000 Mark dotierten Förderpreis der Werkstatttage 2001 am Deutschen Schauspielhaus.

Bis März sollen alle drei preisgekrönten Stücke als Langfassungen uraufgeführt werden, Bertholet macht den Anfang. In ultrakurzen Szenen zeichnet er das Leben einer Frau nach, die an eine Wissenschaft für den Menschen glaubte. Gegen alle Widerstände in Familie und Gesellschaft geht Clara ihrem Interesse nach und studiert Chemie. Doch kaum hat sie ihre Promotion in der Tasche, nimmt sie den Heiratsantrag ihres Berufskollegen Fritz an. Der verspricht ihr „eine Chemikerehe, zwei Schreibtische, ein Institut“ – doch dann kommt alles anders. Erst ist kein Platz für den zweiten Schreibtisch in der kleinen Wohnung, dann wirft Fritz, nachdem er endlich Karriere gemacht hat und Direktor des neu gegründeten Ins-tituts für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin geworden ist, seine Ehefrau aus dem Institut. Weil sie es gewagt hat, ihm dorthin ein Tablett mit Essen zu bringen. Szenen einer unglücklichen Ehe: Clara laboriert nur noch in der Küche herum statt mit chemischen Elementen. Bertholet glückt mit faRbEn ein scharf gezeichnetes Familiendramadas auf gründlicher Recherche beruht und persönliches Schicksal mit historischen Ereignissen verknüpft. Regie-Anweisungen wie „Wohnküche, Breslau“ wechseln mit „im Felde, Ypern“. Ypern steht dabei nicht nur für den historischen Schauplatz einer militärischen Schlacht im Jahr 1915, Ypern steht für alle Kontakte außerhalb des häuslichen Schutzraums. Etwa wenn Clara einen Offizier bittet, am Unterricht teilnehmen zu dürfen, oder wenn Fritz sich an der Universität bewirbt. Beide Ansinnen werden abgelehnt. Weil Clara eine Frau ist, und weil Fritz ein Jude ist.

Von da an will Fritz es allen beweisen. Er zieht stolz für Deutschland in den Ersten Weltkrieg und setzt sich für den Einsatz von Giftgas ein. Clara dagegen verurteilt seine Forschungen mit Tierversuchen und seine militaristische Haltung. Stark verknappt gießt Bertholet die Entwicklung Clara Immerwahrs von der wissensdurstigen Schülerin zur enttäuschten Ehefrau in prägnante Miniszenen. Mal sind sie poetisch, dann wieder naturalis-tisch. Analog der exakten Versuchsanordnung eines wissenschaftlichen Experiments gibt es für jede einzelne genaue Orts- und Zeitangaben. „iMMer“ beginnt der Prolog, danach: „1.5.1915, 21:32“ und „1.5.1915, 23:47“. In diesen drei Szenen entfaltet sich das tödlich endende Ehedrama schon ohne Worte. Trotz der Knappheit schwebt doch etwas sehr Träumerisches und Surreales über dem Ganzen. „Ein Stück über Träume, Träume in Farben“, fasst Bertholet zusammen. „Es heißt Farben, weil Giftgase ein Nebenprodukt der IG-Farben waren, weil Giftgase bunt sind und weil Clara in Farben geträumt hat.“ Die letzte Farbe ist Blutrot. Der historische Fritz Haber emigrierte 1933 nach Großbritannien, wo er ein Jahr später starb. Das Stück endet lange vor der Machtergreifung der Nazis. Bevor Clara ihrem Leben ein Ende setzt, zieht sie Bilanz: „Wir haben versagt. Ich bin keine bessere Frau. Du bist kein besserer Deutscher.“

Szenische Lesung als Uraufführung, 19. Januar, Malersaal, 20 Uhr. Info über die historische Clara Immerwahr: www.ippnw.de/frieden/cia/clara.htm