Das Nichtstun bezahlen!

LOHN UND BROT (1): Der Kombilohn wäre eine Subvention wie viele – teuer und sinnlos. Die soziale Grundsicherung wäre effektiver: Belohnt wird, wer auf Arbeit verzichtet

Soziale Grundsicherung ist keine weltferne Utopie, sondern wurde von Konservativen vorgeschlagen

Die Regierung Schröder ist Gefangene ihrer eigenen Versprechungen. Die Arbeitslosigkeit steigt, und da sich das Kabinett daran messen lassen wollte, was sie dagegen unternimmt, muss sie jetzt „etwas tun“ – im Augenblick ist das die Einführung des Kombilohns. Der Kombilohn ist eine neue Variante der seit Jahrzehnten geübten Praxis, Arbeitsplätze zu subventionieren. Etwa 100 Milliarden Mark werden in Deutschland jedes Jahr für Arbeitssubventionen ausgegeben: ABM-Maßnahmen, Fort- und Weiterbildungsprogramme, Subventionen für den Aufbau Ost und Industriesubventionen aller Art. Allein ein einziger Arbeitsplatz im Kohlebergbau kostete den Steuerzahler in den letzten Jahren 120.000 Mark jährlich. Selbstverständlich werden die Unternehmer die finanziellen Segnungen des Kombilohns, wie bei allen Arbeitssubventionen vorher, gerne nutzen. Aber genauso selbstverständlich werden sie deshalb noch lange keine neuen Arbeitsplätze schaffen.

Der französische Sozialphilosoph André Gorz schrieb schon 1983: „Jede Politik, auf welche Ideologie sie sich sonst auch berufen mag, ist verlogen, wenn sie die Tatsache nicht anerkennt, dass es keine Vollbeschäftigung für alle mehr geben kann und dass die Lohnarbeit nicht länger der Schwerpunkt des Lebens, ja nicht einmal die hauptsächliche Tätigkeit eines jeden bleiben kann.“ Es ist erstaunlich, dass diese Erkenntnis auch heute noch von der Regierung und weiten Teilen der Gesellschaft ignoriert wird.

Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus. Ein unglaublicher Produktivitätsfortschritt – seit hundert Jahren etwa um den Faktor 17 – lässt uns heute immer mehr überflüssigen und umweltbelastenden Plunder mit immer weniger Arbeit produzieren. Die Verbissenheit, mit der die Mehrheit der Gesellschaft trotzdem auf die Wiederbelebung der sterbenden Arbeitsgesellschaft fixiert ist, statt diese Entwicklung auch als Chance zu begreifen und zu gestalten, ist bemerkenswert. Das Festhalten an Arbeit als der zentralen gesellschaftlichen Institution lässt sich längst nicht mehr durch die Notwendigkeiten der Produktion und des Gelderwerbs allein erklären, sondern ist vielmehr auch ein kulturelles und psychologisches Phänomen.

In zahlreichen Kulturen wurde und wird Arbeit lediglich als notwendiges Übel angesehen. Statt Tätigsein und Arbeit sind eher Kontemplation und Müßiggang erstrebenswert. Arbeit begründet nicht die Menschenwürde, sondern steht ihrer Entfaltung im Weg. Erst seit der Reformation wurde Arbeit in unserem Kulturkreis allgemein zum „Beruf“ und positiv bewerteten Lebensinhalt. Und auch wenn das protestantische Arbeitsethos längst an Bedeutung verloren hat, gibt der „Beruf“ uns Selbstwertgefühl und bestimmt unsere Rolle in der Gesellschaft. In einer Zeit, in der viele persönlichen Bindungen – sei es an Wohnorte, Religionen, Familien oder Freunde – immer brüchiger werden, bleibt oft die Arbeit als der letzte zuverlässig erscheinende Halt und Sinnstifter.

Wo es keinen Sinn ohne Arbeit gibt, gibt es auch keine Arbeit ohne Sinn. Den häufig geäußerten Klagen über die Last und die Nöte der Arbeit und den Fantasien, der Arbeit zu entfliehen, steht meist die Angst gegenüber, ohne Arbeit in einem sozialen Niemandsland zu landen und keinen Lebenssinn mehr zu haben. Arbeit als Übel, das man bleiben lässt, wenn man es sich leisten kann, ist häufig nur theoretisch attraktiv. In der Praxis fürchtet ein Großteil der Zeitgenossen ein arbeitsloses Leben wie der Teufel das Weihwasser.

Wir tun uns unendlich schwer, Arbeitslosigkeit nicht nur als Problem, sondern auch als mögliche Lösung in Erwägung zu ziehen. Arbeitsfähige Menschen, die ihren Lebenssinn außerhalb der Arbeit suchen, gelten heute meist als exotische Außenseiter. – Aber sollten wir sie stattdessen nicht als Vorboten einer zukünftigen Gesellschaft sehen?

Die moralisch positive Wertung von Arbeit und Fleiß ist angesichts des Überangebots an Arbeit anachronistisch. Die Schröder-Äußerung, dass es „kein Recht auf Faulheit“ gäbe, erscheint auf diesem Hintergrund unsinnig, aber sie gibt die gesellschaftlich immer noch vorherrschende Stimmung wieder. Doch wer nicht arbeitet, nimmt sich ja vor allem Zeit – ein knappes Gut, das man nicht anderen wegzunehmen braucht, um es zu besitzen. Und wenn Arbeitsplätze knapp sind, warum belohnen wir nicht längst diejenigen, welche darauf freiwillig verzichten wollen? Jedenfalls ist es kaum nachvollziehbar, dass es moralisch wertvoller sein soll, hunderttausende Mark für Arbeitsplatzsubventionen zu beanspruchen als einen Bruchteil davon für Sozialhilfe.

Die ideologische und moralische Fixierung auf Arbeit als Lebenssinn und zentrale gesellschaftliche Institution ist das wichtigste Hindernis auf dem Weg zu gangbaren und sozialverträglichen Lösungen am Ende der Arbeitsgesellschaft. Wann werden endlich mehr Menschen den Mut haben, ihre Identität nicht vor allem aus der bezahlten Arbeit zu schöpfen und der Gesellschaft die Toleranz abverlangen, dies zu akzeptieren? Das so genannte Arbeitslosenproblem würde durch eine solche Neubewertung der Arbeit entschärft, ohne dass dies die Gesellschaft einen Cent kosten müsste. Auch gesetzliche Regelungen zur Begünstigung von Sabbatjahren, flexibler Ruhestandsregelung und Teilzeitarbeit könnten kostenneutral sein. Warum sollte sich nicht jeder Mensch sein individuelles Lebensmenü selbst zusammenstellen, statt sich mit dem Einheitsbrei von 40 Stunden Wochenarbeitszeit, 6 Wochen Jahresurlaub und Rente mit 65 zufrieden zu geben?

Zeit ist ein knappes Gut, das man nicht anderen wegzunehmen braucht, um es zu besitzen

Marktwirtschaftlich gesehen, würde selbst eine soziale Grundsicherung ohne Arbeitszwang mehr Sinn machen als die Subvention von Arbeit. Die auf diese Weise investierten staatlichen Gelder würden zur Verknappung der überreichlich vorhandenen Ware Arbeitskraft beitragen. Neben einer Existenzsicherung, für die von der Arbeit Ausgeschlossenen, könnte die soziale Grundsicherung die Unternehmer zwingen, auch in den unteren Lohngruppen für einen passablen Lebensstandard ausreichende Löhne zu zahlen.

Die soziale Grundsicherung ist keine weltferne Utopie, sondern wurde unter Anderen selbst von dem konservativen amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Milton Friedman vorgeschlagen. Es ist längst durchgerechnet, dass diese Grundsicherung bezahlbarer wäre, als die Subventionierung der Arbeit immer weiter ausufern zu lassen.

Nur wenn wir von der Fixierung auf das Problem der „Arbeitslosigkeit“ frei werden, können wir zu den wirklichen Problemen der Arbeitslosen kommen. Nur wenn wir die pauschale moralische Hochschätzung von Arbeit überwinden, können wir uns der Frage stellen, wie ein menschenwürdiges Leben auch für Menschen möglich ist, für die es keine sinnvolle Arbeit mehr gibt. Und erst dann würde auch die Regierung Schröder die Freiheit für ein konstruktives politisches Handeln wiedergewinnen. AXEL BRAIG