Rio zum Mitmachen

■ Rio Reiser als Musical-Held im Kampf ums Paradies

Hatte Rio rasiertes Achselhaar? Hing dem Bassisten Kai bei den Auftritten in besetzten Häusern die Kippen aus dem Mundwinkel, ohne dass sie brannte? Wir wissen's nicht. Manche waren damals dabei und wissen's, andere waren damals auch dabei und wissen's noch besser. Vor der Premiere des Musicals in Berlin hat es Streit gegeben darüber, wer ihn besser kannte, den Rio. Vorname reicht. Von Rio reden alle, als wären sie mit ihm schussern gewesen.

Rio, das Sprachrohr, die Projek-tionsfläche – und vor allem der Speicher für Erinnerungen. Ein heißes Eisen, das man verbiegt, wenn man es anfasst. Dem Autoren- und Regieduo Pit Holzwarth und Renato Grünig war klar, dass sie mit einem Musical über Rio Reiser eine sensible Stelle betatschen – und sie haben höllische aufgepasst, niemandem weh zu tun.

Auf Tuchfühlung mit „Macht kaputt, was euch kaputt macht“: Der Abend beginnt mit dem Moment kurz vor Reisers Tod, das folgende, knapp dreistündige Stück soll der Bilderstrom sein, der Reiser kurz vor dem letzten Herzschlag noch einmal durch den Kopf geht. Nicht die Autoren spekulieren, Rio fantasiert – so stellen die Autoren Distanz zum Bühnengeschehen her, geben Verantwortung ab. Das ist schlau gedacht, aber so halbherzig umgesetzt, dass nicht Distanz, sondern Verwirrung entsteht.

Aber die ist schnell überstanden und dann geht es recht geradlinig durch die späten 60er: Rio und seine erste Gitarre, dann Rio und ein Chor aus Beamten-Bürgern mit Hornbrillen, die Schlager und Volkslieder singen und sich Eimer aufsetzen, wenn die Vietnam-Bomben explodieren. Schnitt, eine Band steht auf der Bühne und ein Kraftmeier mit nacktem Oberkörper schreit breitbeinig: „Warum geht es mir so dreckig?“ Und man möchte zurück fragen: „Wem bitte geht's hier dreckig?“

Sebastian Mirow gibt Rio Reiser als engagierten Sunnyboy, ein Lockenkopf ohne Profil, einer, der auch Jim Morrison oder den guten Hippie in „Hair“ spielen könnte. Ein frisch gewaschenes Schauspieler-Gefäß, in das vieles passt. Die perfekte Projektionsfläche – immerhin diese Eigenschaft haben Mirow und Reiser gemeinsam.

Dem Problem der Reiser-Darstellung begegnen die Regisseure, indem sie schön behutsam den Akzent verschieben: Der Abend entwickelt sich zu einem Zeitporträt, die Band wird zur WG, zur Karikatur einer vergangenen Jugenkultur. Damals, als wir Drogen probierten und die Tarrot-Karten legten, als wir Energiefelder suchten. Ein Blick zurück, parodistisch überzeichnet.

Hier entwickelt der Abend seine Stärken: Die Regisseure begnügen sich mit einem sparsamen Bühnenbild aus fünf drehbaren Scherben, sie arbeiten mit unspektakulären aber effektiven Mitteln, vom sehr geschickten Umgang mit der Geräuschkulisse über das Puppentheater bis hin zum Mitmachtheater: Da gibt es den Hausbesetzersong zum zum Mitschnipsen und Mitsingen und da gibt es ein gutes Gespür für Höhepunkte – die liefert immer noch die Musik. Dass die Schauspielerband Schwierigkeiten mit Timing und Zusammenspiel hat, das ist nicht so wichtig: „Wir sind geboren, um frei zu sein“ – die Original-„Scherben“ waren auch keine technischen Virtuosen.

Was im Theater am Leibnitzplatz herauskommt, ist Unterhaltung mit melancholischem Einschlag – versöhnlich, charmant und ohne die Relevanz, die Auseinandersetzungen mit Rio Reiser einmal hatten. Klaus Irler